an mein Gesicht und schließlich an meine Hände. Ich sah an ihren Pupillen, dass man sie unter Drogen gesetzt hatte. Das Sprechen fiel ihr schwer, auch wegen der trockenen Lippen, der steifen Zunge und der rauen Kehle. Sie stieß kurze und heisere Laute aus, die ich nicht verstand. Es spielte keine Rolle. Ich umarmte sie und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Ich sagte tausend Mal, dass ich sie liebe.
Hinter ihr sah ich Jaatinen, der auf einen Gepäckkarren gestiegen war oder sich hatte hinaufhieven lassen mit seinem kaputten Bein. Wie er da hoch über dem Bahnsteig thronte, sah er aus wie ein aufs Meer blickender Kapitän. Er machte eine fragende Geste, und ich begriff, dass sie sich auf Tarkiainen bezog. Ich schüttelte den Kopf.
Jaatinens Schultern sanken herab, und er starrte mich und Johanna an. Kann sein, dass aus seiner Miene Verwirrung oder Enttäuschung sprach, ich kümmerte mich nicht darum. Ich schloss für einen Moment die Augen, um besser zu spüren, wen ich in meinen Arm hielt.
Ich geleitete Johanna in den Bahnhof. Ihre Schritte waren kurz und tastend, aber sie führten in die richtige Richtung.
KARFREITAG MORGEN
Das kleinste Knacken in den Wänden, Vogelfüße auf dem Fensterbrett oder heftiger Wind in den Wipfeln der Kiefern vor dem Schlafzimmer – und Johanna erschrickt, schläft aber sofort wieder ein.
Ein Frühjahrsmorgen graut, es ist Ende April. Die Sonne geht früh auf und ist sofort butterblumengelb, kräftig und grell.
Ich bemühe mich, Johanna nicht zu berühren, weil sie von einem leichten Streifen wach wird. Sie hat sich komplett in ihre Decke eingerollt. Ihre Wange ist tief ins Kissen gedrückt, und aus ihrer Nase kommt leises, gleichmäßiges Schnaufen.
Geräuschlos stehe ich auf, schließe die Schlafzimmertür hinter mir und gehe in die Küche. Ich koche Kaffee und stelle mich ans Fenster. Die Bucht liegt vor mir, das Wasser hat eine grell blinkende blaue Oberfläche und ist vom Wind aufgewühlt. Am Ufer kann man schon hier und da erstes Grün in verschiedenen Schattierungen erkennen, von zart bis kräftig.
Rein äußerlich erinnert kaum noch etwas an Weihnachten. Physisch hat sich Johanna längst erholt. Geblieben sind die Alpträume, die Vorsicht und die Angst, die sie sich nicht mal selbst eingestehen mag.
Ich gieße mir Kaffee ein, setze mich an den Tisch und schalte das Notebook ein, schaue mir die Nachrichten an. Aus irgendeinem Grund deprimieren sie mich nicht mehr, obwohl sie permanent schlechter werden. Jaatinen meinte bei seinem Besuch gestern, dass ich mich dem Leben gegenüber jetzt so verhalte wie er: realistisch, ohne große Erwartungen und ohne zurückzublicken. Damit wollte er wohl sagen, dass ich jetzt auch alles hinnehme, wie es kommt. Ich widersprach nicht.
Sein Besuch hatte aber einen anderen Grund, als sich um mein Befinden zu kümmern. Er erzählte mir vom Abschluss der Untersuchungen, davon, dass Väntinen erwiesenermaßen Dutzende Menschen umgebracht hat, dass er Gromow mit ins Boot geholt und dass Gromow Lassi Uutela erpresst hat.
Ich wollte ihm sagen, dass ich all das bereits wusste, aber er schenkte meinen Kommentaren kein Gehör. Und so kaute er alles nochmals durch. Wir erörterten auch wieder die Minuten auf den Gleisen, ohne dass einer von uns etwas Neues lernte. Als Jaatinen schließlich ging, war seine Miene ebenso enttäuscht wie damals.
Ich weiß nicht, warum mir all das durch den Kopf geht. Da fällt mein Blick auf den E-Mail-Eingang. Ich habe Post. Es ist Karfreitag, und ich erwarte keine Nachricht.
Schon allein die Betreffzeile der Mail sagt viel aus: DER KAMPF FÜR DAS GUTE GEHT WEITER.
Ich lese die Nachricht, sie ist gut geschrieben, argumentativ überzeugend und erschüttert mich bis ins Mark.
Ich stehe auf, gehe ins Arbeitszimmer und suche nach dem Rucksack, den ich Weihnachten ganz tief in den Schrank gesteckt hatte. Ich finde ihn mit seinem alten Inhalt.
Als ich die Tür zum Schlafzimmer öffne, fallen mir die wilden Gedanken ein, die ich damals hatte, als Johanna verschwand. Ich erinnere mich, wie ich mich fragte, was ich eher aushalten würde: die klare Gewissheit, dass das Schlimmste passiert war, oder von Minute zu Minute wachsende Angst. Rascher Zusammenbruch oder langsam quälende Zermürbung.
Vielleicht sollte ich froh sein, dass ich die Antwort jetzt kenne.
Johannas Wimpern zucken. Die Frühjahrssonne ist gnadenlos, sie bohrt ihre langen Strahlen durch die Gardinen und hat bald das ganze Zimmer erobert. Johanna wacht nicht auf, als ich mich neben sie lege, sie drückt ihren Kopf nur noch tiefer ins Kissen.
Ich muss unwillkürlich ihre Finger berühren. Als ich sie streichle, ziehen sie sich ganz leicht zurück, erlauben dann aber, dass ich meine Finger mit ihnen verschränke. Irgendetwas passiert mit mir, als ich Johanna berühre. Etwas in meinem Herzen bewegt sich, sagt mir, dass es richtig und gut ist, so wie es ist.
Und es ist gut so. Ich bin ein Teil davon, und es ist ein Teil von mir. Wir sind so glücklich, wie es zwei Menschen auf dieser Welt nur sein können. Was auch immer geschehen mag, ich liebe Johanna.
Ich werde geduldig warten, und wenn sie aufwacht, erzähle ich ihr, warum ich eine Pistole in der Hand halte.