»Kannst du mir bitte nochmal sagen, was ich sagen soll?«
Sie explodierte. »Als Strafe sollte ich einfach das Gespräch beenden und dir nie sagen, was ich vorhin gerade gesagt habe!«
Und was genau wäre daran die Strafe?
»Bitte Tissi …«
»Exakt darum geht es«, zeterte sie. »Tira heiße ich ab heute! Tira! Das habe ich dir vorhin gesagt. Tissi ist gestorben. Tira ist geboren!«
Sie beendete das Gespräch und machte damit den angenehmsten Teil ihrer Drohung wahr. »Tira«, murmelte ich. Ob ich mich beim nächsten Telefonat wohl trauen würde, nach dem Grund der Namensänderung zu fragen?
Ich schlüpfte aus dem Leinenkleid und warf es auf mein Bett. Ich schälte mich aus den Miederhöschen, aus dem unbequemen Bügel-BH und zog mir ein übergroßes T-Shirt an, das mir fast bis zu den Knien reichte. Es war so heiß, dass ich ohne weiteres nackt hätte herumlaufen können, doch hatte ich Angst, dass Greenpeace sofort die Wohnung stürmen würde: »Ein Wunder! Moby Dick lebt! Los, zurück ins Meer mit ihm!«
Das Schlafzimmer sah ähnlich farblos aus wie ich. Noch. Irgendwann würde ich es ozeanblau streichen. Und über das Bett käme ein rotes Boot mit weißem Segel. Ich liebte das Meer. Jedes Meer auf der Welt. Und irgendwann würde ich ein echtes Meer sehen, es war mir ganz egal, welches.
Das Wohnzimmer war jetzt schon sonnengelb gestrichen. Mama fand, dass es aussah, als hätte ein Drogensüchtiger meine Wände vollgepinkelt. Und mein Sofa nannte sie Kommunistencouch, weil es rot war. Sie setzte sich nie darauf.
Umso genüsslicher ließ ich mich jetzt drauffallen. Im Fallen griff ich nach der Fernbedienung, und noch bevor mein Körper die Kommunistencouch berührte, hatte ich schon den Fernseher eingeschaltet. Das waren so die kleinen Tricks, die ich beherrschte.
Mein Zeigefinger zappte durch die Kanäle. Doku, Wirtschaftsjournal, zwanzigste Wiederholung von Scrubs, zweihundertste Wiederholung von den Simpsons, die gleiche Southpark-Folge wie gestern Nacht und vorgestern Nacht, Discovery Channel – mein Finger stoppte, als ich die beiden Löwen sah. Mein Gott, das war … okay, die war jetzt eindeutig keine Jungfrau mehr … das musste echt wehtun … Ich kniff die Augen zusammen, zappte weiter.
Neue Protagonisten, neue Kulisse, gleiche Tätigkeit. Eigentlich brauchte ich nicht mehr hinzusehen. Ich wusste genau, was da ablief. Jahrelange Fernseherfahrung. Ich wusste, wie man sich bewegen musste, was es für Positionen gab und dass es jedes Mal mit einem doppelten und gleichzeitigen Hurra endete.
Und mittlerweile wartete ich die Hälfte meines Lebens darauf, dass es mir passierte. Was war ich anfangs stolz gewesen, dass ich mich für den Richtigen aufhob, während Tissi sich »an jeden x-beliebigen Dahergelaufenen verschenkte«, wie Mama es nannte. Und was war Mama froh gewesen, dass wenigstens ihr kleines Mädchen brav und sittsam zu Hause blieb, während die Große »sämtliche Rückbänke sämtlicher Automarken durchwetzte«. Ja, Mama konnte manchmal ganz schön derb sein.
Doch es half, um mir einzutrichtern, dass der Verlust der Jungfräulichkeit nichts Erstrebenswertes war. Und so gingen die Jahre ins Land. Und irgendwann war ich keine sechzehn mehr, sondern zwanzig. Und irgendwann war ich keine zwanzig mehr, sondern fünfundzwanzig. Und hätte einen Mord begangen, um irgendeine Rückbank irgendeiner Automarke durchwetzen zu können. Und in vier Wochen war mein dreiunddreißigster Geburtstag und es war noch immer nicht passiert. Nicht es und auch nicht das ganze andere, was man zu zweit tun konnte.
Wenn mir vor fünfzehn Jahren irgendjemand gesagt hätte, dass mir all das Zeug, von dem ich heimlich in der Bravo las, nie geschehen würde, dann … ja, was dann? Ich hätte es vermutlich nicht geglaubt. Ich hätte nicht glauben können, dass etwas, das alle Welt tat, mir nie vergönnt sein würde. Warum ich? Warum ausgerechnet ich?
Und was würde sein, wenn es mir doch endlich vergönnt war, womöglich sogar mit dem Piraten vergönnt war, und ich kläglich versagte? Der Mensch hat bekanntermaßen ein paar Urängste. Ich hatte ziemlich viele. Und seit vier Monaten war das eine davon. Was, wenn ich den Piraten tatsächlich rumkriegte und dann nicht gut genug war? Ich wusste ja nicht wirklich, wie das ging.
Ich strich mir über die Wange, die er berührt hatte. Ganz sanft nur, damit ich die Berührung ja nicht abwischte. Heute war der erste Abend seit vier Monaten, an dem ich kein Buch gekauft hatte.
Ein Abend, der in die Geschichte eingehen würde, ein Abend, der für einen Neubeginn stand, ein Abend, an dem ich endlich einmal nicht mein Handy nehmen würde und – ich holte mein Handy.
Ich starrte es an, biss die Zähne zusammen, und tippte schließlich doch die Zahlenkombination ein, die ich längst im Schlaf kannte. Fluchend, weil ich so wütend war auf meinen absoluten Mangel an Selbstbeherrschung. Ich hielt das