ganze Zeit über hielt ich den frisch erworbenen Fahrschein fest in der Hand, bereit, ihn dem nächsten Schaffner unaufgefordert unter die Nase zu halten. Es kam jedoch keiner. Der Pirat schwieg, als hätte er ein Gelübde abgelegt, von ihm kam lediglich ein kleines Nicken, wenn unsere Blicke sich zufällig trafen. Wieder dachte ich, dass irgendetwas heute Abend anders war an ihm.
Die Sieveringer Straße lag verlassen da. Aus den geöffneten Fenstern der Wohnhäuser drang gelegentliches Lachen. Irgendwo sang jemand »Fly me to the moon«.
»Das hätte dem Hans gefallen«, sagte ich und fügte ungefragt hinzu: »Der Hans, das war der Gründer vom Schuh-Bi-Dubi-Du. Er ist vor drei Jahren gestorben.«
Es dauerte eine Weile, bis der Pirat antwortete. »Aha«, sagte er schließlich. »Wollte der Hans auf den Mond fliegen?«
So viel Unwissen verschlug mir die Sprache. Natürlich, der Pirat hatte Hans ja nicht mehr gekannt, aber »die Story« – wie der Hans gesagt hätte – war doch wohl jedem in der Umgebung bekannt.
»Der Hans war der größte Frank-Sinatra-Fan aller Zeiten. Er hat ihn sogar mal getroffen, vor vierzig Jahren oder so, in New York. Da haben sie eine ganze Nacht zusammen durchgemacht, und Sinatra hat dem Hans ganz viele Originalsachen geschenkt. Platten, Noten, eine Ukulele, alles mit Autogramm drauf …«
»Ach«, jetzt lächelte der Pirat, »das ist ja eine wunderbare Geschichte.«
Ich nickte eifrig. »Ja, und bis vor ein paar Jahren hingen die Sachen auch alle im Schuh-Bi-Dubi-Du, aber kurz vor seinem Tod hat er sie abgenommen. Ich habe Nancy danach gefragt, aber sie tut so, als wüsste sie von nichts.«
»Nancy Sinatra?«
Ich kicherte. »Nein, Hans’ Tochter. Sie hat das Geschäft übernommen. Sie ist furchtbar. Und am liebsten würde sie das Schuh-Bi-Dubi-Du umbenennen.«
»In was denn umbenennen?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber sie darf eh nicht. Das hat Hans im Testament so festgelegt. Wäre ja auch blöd, wo der Name doch die Idee von Frank Sinatra höchstpersönlich war.«
Der Pirat blieb stehen. Selbst im Dunkeln sah ich sein linkes Auge leuchten. »Erzählen Sie«, bat er.
Ich war ebenfalls stehen geblieben. Der Wind wehte sanft und über uns schaukelte ein Zweig. Vielleicht ein Mistelzweig, dachte ich in einem Anflug von angelsächsischer Romantik.
»Also«, begann ich, »in dieser Nacht hat der Hans dem Frank Sinatra von seinem großen Traum erzählt, einmal ein eigenes Geschäft aufzumachen. Und weil er so betrunken war, hat er gemeint, es sei ihm ganz egal, welches Produkt er verkauft, wichtig sei einzig, dass sich der Name des Geschäfts von einem Sinatra-Song herleitet. Und dann haben die beiden überlegt, und Frank hat Hans alles Mögliche vorgeschlagen, aber ins Deutsche übersetzt hätte das alles keinen Sinn ergeben. Und irgendwann hat Frank gefragt, was ›Shoe‹ auf Deutsch heißt. Und der Hans hat gesagt, dass ›Shoe‹ einfach ›Schuh‹ heißt. Und dann hat Frank zu singen begonnen: ›Strangers in the night exchanching glances, wond’ring in the night, what were the chances, we’d be sharing love, before the night was throuououough, shoobie doobie doo lalalalala shoobie doobie doo hmhmhmhmhmhmmmmmm … Und deswegen verkaufen wir Schuhe im Schuh-Bi-Dubi-Du.«
Und noch während ich mir dazu gratulierte, dass ich es geschafft hatte, vor dem Piraten zu singen, einfach so zu singen, machte der Pirat etwas noch viel Erstaunlicheres: Er nahm meine linke Hand in seine und zog sie an sich. Mir brach der Schweiß aus. Und zwar vor allem in der linken Hand. Ich spürte, dass sie klitschnass war, und als der Pirat sie an sein Herz drückte, fühlte sich mein ganzer Körper an, als sei ich gerade einem Regenguss entkommen.
Er ließ mich los und streckte beide Arme in die Luft. »Frau Kis«, rief er, »ich danke Ihnen! Ich danke Ihnen von Herzen, Sie haben mir den Abend mit dieser wunderbaren Anekdote unendlich versüßt.«
O mein Gott, Pirat, dachte ich, heirate mich, heirate mich doch endlich. Ich will dich lieben und ehren, dir Geschichten erzählen, dir zu Füßen liegen, die Augenklappe polieren, dein – und da endlich wusste ich es. Wusste, was heute so vollkommen anders am Piraten war als all die Monate zuvor.
»Herr Nemeth«, entfuhr es mir. »Herr Nemeth, Ihre Augenklappe!«
Sofort tastete er nach ihr. Er wirkte verunsichert.
Ich gestikulierte vor seinem Gesicht herum. Das war doch nicht zu fassen. Der Pirat, dieser anbetungswürdige, hinreißende, göttliche Mensch, dieser Betrüger –
Ich zwang mich, das Fuchteln einzustellen, und stieß hervor: »Sie tragen die Augenklappe auf der falschen Seite.«
Er sah mich an, als würde er nicht ganz verstehen. »Es gibt keine falsche Seite.«
»Nicht? Pir-, ich meine, Herr Nemeth, Sie haben die Klappe sonst immer auf dem anderen Auge.«
Er lächelte. »Dass Ihnen das auffällt … ich wechsle alle halbe Jahr, sonst ist es