Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,6

gesehen und gehört, wie seine eigenen Kinder durch die Kugeln aus der Pistole, um die er seine Finger pressen musste, starben.

Diese letzte E-Mail war hastig und schlecht geschrieben, sie war falsch, sowohl vom Inhalt als auch von der Grammatik her. Und die Tat wurde in keiner Weise mehr begründet.

Ich stand auf und ging auf den Balkon, wo ich lange Zeit verharrte. Ich atmete die kühle Luft ein, versuchte, den Stein loszuwerden, der sich auf meine Brust gelegt hatte. Der Stein wurde leichter, rollte aber nicht herunter.

Wir waren fast sofort nach unserer Hochzeit in diese Wohnung gezogen, sie war unser Heim geworden, und wir hingen an ihr. Hier war unser Platz in der Welt. In einer Welt, die noch vor zehn Jahren ganz anders gewesen war. Im Nachhinein ließ sich natürlich leicht sagen, dass sämtliche Vorzeichen schon damals erkennbar gewesen waren: die bis weit in den Herbst hineinreichenden, immer trockeneren Sommer, die regnerischen Winter und zunehmenden Stürme, die Meldungen von den vielen Millionen Menschen, die in der Welt um­herzogen und allmählich nach Europa vorrückten, die exotischen Insekten, die sich auf die Haut setzten und ­Borreliose, Malaria, Gelbfieber und Enzephalitis übertrugen.

Unser Haus stand auf einem Hügel, und bei klarem Wetter konnten wir bis zum Strand von Arabianranta ­sehen, wo viele Häuser wiederholt vom Meer überflutet worden waren. Genau wie andere vom Hochwasser betroffene Stadtteile war auch Arabianranta häufig ohne Elektrizität. Man wagte nicht, Strom in die beschädigten, dem Wasser ausgesetzten Gebäude zu leiten. Ich sah mit bloßem Auge und aus zweieinhalb Kilometer Ent­fernung Unmengen von verschieden großen Lagerfeuern am Ufer brennen. Aus der Ferne betrachtet wirkten die meisten von ihnen klein und schwach, wie gerade aufgeflammte Streichhölzer, die man leicht auspusten könnte. In Wahrheit hatten viele Feuer anderthalb Meter Durchmesser. In ihnen wurde alles verbrannt, was sich am Strand und in den verlassenen Häusern ansammelte. Gerüchte besagten, dass darin, neben allem anderen, auch tote Tiere und sogar Menschen beseitigt wurden.

Seltsam, wie ich mich an den Anblick der Feuer gewöhnt hatte. Ich hätte nicht mal auf Anhieb sagen können, wann sie zum ersten Mal aufgetaucht waren oder wann das Flammenband, das sie bildeten, zur allabendlichen Erscheinung geworden war.

Der Silhouette von Arabianranta folgten weiter hinten die Türme von Pasila, und an dem Leuchten und Glühen hinter Kivinokka und Kulosaari konnte ich erkennen, wo sich das Stadtzentrum befand. Über allem ruhte der dunkle und unendliche Nachthimmel, der die ganze Welt in kaltem sicheren Griff hielt.

Ich merkte, dass ich eine Verbindung suchte zwischen dem, was ich vorhin gelesen hatte, und dem, was ich jetzt sah.

Johanna.

Irgendwo dort.

Wie ich zu Lassi gesagt hatte, war es völlig sinnlos, Anzeige zu erstatten. Wenn die Polizei schon keine Zeit und Ressourcen hatte, Mörder von Familien zu jagen, wie sollte sie dann nach einer Frau suchen, die seit vierundzwanzig Stunden verschwunden war, eine von Tausenden Vermissten.

Der Heiler.

West-Ost oder Nord-Süd.

Die Nacht gab keine Antwort. Im Obergeschoss dröhnte Musik. Der Wind fuhr durch die Bäume am Hang, peitschte ihre blattlosen Zweige nach Leibeskräften, aber sein Getöse konnte es nur einen Moment lang mit dem Tonwall aufnehmen, den Mensch und Maschine geschaffen hatten. Die Kälte des Betonfußbodens auf dem Balkon trieb meine Füße auf einen wärmeren Untergrund.

Ich kehrte an den Küchentisch zurück, las sämtliche Texte über den Heiler ein weiteres Mal durch, kochte mir Kaffee und versuchte Johanna anzurufen. Ich war nicht überrascht, dass sie nicht zu erreichen war. Angst und Ratlosigkeit überkamen mich.

Eins stand jedenfalls fest: Johanna war während einer Recherche verschwunden, bei der sie Nachforschungen über den Heiler anstellte.

Ich schob alle anderen Gedanken beiseite, trank Kaffee und studierte die E-Mails des Heilers in der Reihenfolge ihres Eingangs, dabei sortierte ich sie auf zwei Stapel. Auf den ersten legte ich all die, in denen die Notwendigkeit der Taten lang und breit begründet und in denen auf Johannas frühere Reportagen eingegangen und angedeutet wurde, dass ihre Arbeit ein bisschen wie die des Absenders war: Lügen aufdeckend und befreiend. Auf den zweiten Stapel kamen jene, in denen einfach nur mit­geteilt wurde, wo die Toten lagen, und das in wenigen hastig und schlecht geschriebenen Zeilen.

Anschließend blätterte ich beide Stapel erneut durch und kam zum selben Ergebnis wie beim ersten Mal. Es gab zwei Schreiber. Jedenfalls auf dem Papier. Das war zumindest mein Eindruck.

Ich klickte noch einmal auf die elektronische Karte, die Johanna erstellt hatte. Sie wirkte auf mich wie eine Wegbeschreibung in die Hölle. Ich bewegte die roten Punkte, die die Morde markierten, verglich die Daten und Johannas Prognosen. Zwischen den Morden lagen ­jeweils zwei oder drei Tage. Johanna hatte in alle Himmelsrichtungen Fragezeichen hinzugefügt und mögliche

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