Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,7

Tatzeiten künftiger Morde errechnet.

Während ich auf die Karte starrte, fiel mein Blick auf das Symbol für das E-Mail-Account. Ich zögerte eine Weile. Die Post eines anderen zu lesen war eindeutig falsch. Aber war dies nicht eine Ausnahmesituation? Und wir hatten doch keine Geheimnisse voreinander? Dann beschloss ich, das E-Mail-Programm erst dann zu öffnen, wenn es unbedingt nötig war. Vorläufig würde ich mit dem auskommen, was direkt mit Johannas aktueller Story zu tun hatte.

Mir fiel das Telefonat ein, das ich aufgezeichnet hatte, ich schaltete meinen eigenen Laptop ein und schloss das Handy an.

Ich überspielte das Gespräch mit Johanna auf meinen Computer, suchte eine Weile im Internet nach dem richtigen Abspiel-Programm, lud es herunter und öffnete die Datei. Das Tonbearbeitungsprogramm war leicht zu bedienen. Ich isolierte die Geräusche, blendete Johannas und meine Stimme aus und lauschte. Ich hörte Autogeräusche, Dröhnen und jenes Rauschen, das ich bereits kannte. Als ich mir alles wieder und wieder anhörte und das Rauschen, die Autos und das Dröhnen unterscheiden konnte, bekam das Rauschen nach und nach feinere ­Nuancen. Hoffnungsvoll gedacht, enthielt es etwas, was sich ständig wiederholte und was nicht etwa vom Wind oder einem Jackenärmel stammte, sondern viel gleichmäßiger war: Wellen. Während ich die Aufnahme wieder und wieder abspielte, schloss ich die Augen, versuchte mich zu konzentrieren und mich gleichzeitig zu erinnern.

Waren das Wellen, oder wollte ich das nur hören?

Ich ließ das Rauschen als Endlosschleife laufen und sah mir dabei Johannas Karte und ihre Berechnungen an. Angenommen, das regelmäßige Rauschen kam tatsächlich vom Meer und die Morde folgten Zyklen von zwei oder drei Tagen, dann würden die vom Heiler – und sei es auch nur annähernd – eingehaltene Nord-Süd-Strecke, die Daten und die mit Fragezeichen markierten Punkte irgendwo in der Gegend Jätkäsaari oder Munkkisaari aufeinandertreffen.

Und wenn ich zusätzlich noch annahm, dass Johanna zum selben Schluss gekommen war, dann hatte sie mich von dort zuletzt angerufen.

5 Der Taxifahrer, ein junger Nordafrikaner, sprach kein Finnisch und wollte kein Taxometer benutzen. War mir recht. Wir verhandelten den Preis halb mit den Fingern, halb auf Englisch, und so leuchteten vorn im dunklen Wagen konstant vier Nullen, als der Mann Gas gab und an der U-Bahnstation und dem halb verwaisten Einkaufszentrum vorbei auf die östliche Ausfallstraße fuhr. Er wich Schlaglöchern und Unebenheiten im Straßenbelag ebenso geübt aus wie all den Autofahrern, die riskant überholten oder ständig die Spur wechselten.

Die Häuser am Ufer von Kulosaari waren, abgesehen von wenigen Ausnahmen, von ihren Besitzern verlassen und dann von Fremden in Beschlag genommen worden. Die früheren Bewohner waren in nördliche Regionen ­gezogen, wenn sie es sich leisten konnten: die wohlhabendsten nach Nordkanada, alle anderen in den Norden Finnlands und Schwedens oder ins norwegische Lappland. Im hohen Norden, sowohl im Landesinneren als auch unmittelbar an der Küste des Eismeeres, waren in den letzten Jahren Unmengen von streng abgeschirmten, privaten Kleinstädten entstanden, die über eine eigene geschlossene Kanalisation und ein ebensolches Stromnetz verfügten. Und natürlich über Hunderte bewaffneter Aufpasser, die unerwünschte Besucher fernhielten.

Jetzt wohnten in den dunklen Häusern von Kulosaari hauptsächlich Flüchtlinge aus dem Osten und dem Süden Europas. Ein Band aus Lagerfeuern und Zelten umspannte das Ufer. Das Zusammenleben zwischen den verbliebenen alten Bewohnern, die hartnäckig ihre Häuser und Strände verteidigten, und den Flüchtlingen verlief nicht immer problemlos. Der Heiler hätte natürlich auch darüber seine eigenen Ansichten.

Unterwegs sah ich mir die Videos der Nachrichtensendungen an, die in Johannas H-Ordner gespeichert waren. Je tagesaktueller sie waren, desto frustrierter wirkten die Journalisten mit ihren Fragen und desto müder die Polizisten mit ihren Antworten. Den Abschluss bildete der Kommentar des leitenden Kriminalbeamten, ein Mann mit rot unterlaufenen Augen: »Wir ermitteln weiter und teilen Ihnen mit, wenn es etwas mitzuteilen gibt.« Ich übertrug seinen Namen, der auf dem Bildschirm eingeblendet war, auf mein Handy und suchte mir die dazugehörige Nummer heraus. Kriminaloberkommissar Harri Jaatinen.

Ich lehnte mich zurück.

Wann hatte ich mit absoluter Sicherheit gewusst, dass Johanna etwas zugestoßen war? Als ich morgens um vier Uhr vom Gebell einer Hundemeute erwachte? Als ich mir zwei Stunden später Kaffee kochte, weil es besser war, aufzustehen als mühsam aufs erneute Einschlafen zu warten? Oder wurde aus der Vermutung Gewissheit während all der Stunden, in denen ich mechanisch meine Aufgaben verrichtete und im Minutenabstand auf das stumme Telefon blickte?

Der junge Taxifahrer wusste genau, wo Straßen gesperrt waren, und wählte entsprechend seine Route. Bei der Langen Brücke hielten wir an der Kreuzung. Neben uns stoppte ein Geländewagen, dessen hinteres Fenster offen war. Ich zählte rasch die Insassen: acht junge Männer, deren ausdruckslose Gesichter, starre Blicke und tätowierte Hälse nicht nur auf die Zugehörigkeit zu einer

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