Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,5

und trägt zum Gesamteindruck bei, auch wenn die Wohnung tausend Mal gelüftet wurde. Der Duft war mir so vertraut, dass ich beinah laut gesagt hätte: Ich bin zu Hause. Aber an wen hätte ich meine Worte richten sollen?

Ich trug die Tasche in die Küche und packte die Papiere und den Laptop auf den Tisch. Dann wärmte ich mir den Gemüseauflauf auf, den Johanna am Wochenende zubereitet hatte, und setzte mich. Irgendwo, zwei, drei Stockwerke über mir, hörte jemand Musik. Es war, als würde der leise, gleichmäßige Rhythmus für immer anhalten und könnte nur durch etwas Extremes gestoppt werden.

Und gleichzeitig bestärkte alles, was ich sah, schmeckte und fühlte, meine Angst, dass etwas Schlimmes passiert war. Ich konnte nicht mehr schlucken, weil mir ein Kloß in die Kehle stieg und ich im Magen und auf der Brust einen Druck verspürte, der mich plötzlich zwang, mich ausschließlich aufs Atmen zu konzentrieren.

Ich schob den Teller beiseite und schaltete Johannas Laptop ein. Das leise Summen des Gerätes und die Helligkeit des Bildschirms erfüllten die kleine Küche. Als Ers­tes sah ich das Hintergrundfoto: Johanna und ich auf unserer Hochzeitsreise vor zehn Jahren.

Noch mehr zu schlucken.

Vorn im Bild wir beide, in vieler Hinsicht jünger, über uns der fast mit den Händen zu greifende blaue süd­europäische Himmel, hinter uns der Ponte Vecchio von Florenz, seitlich ein Stück uralter, verfallener Hauswand und das vergoldete, von der Sonne fast gänzlich aus­geblichene Schild eines Cafés am Fluss. Ich betrachtete Johannas lachende, direkt in die Kamera blickenden ­Augen – im hellen Aprillicht schimmerten sie blau und grün –, dann ihren ein wenig breiten Mund, die gleich­mäßigen weißen Zähne, die beginnenden haarfeinen Falten in den Augenwinkeln und die kurzen lockigen Haare, die das Gesicht umrahmten wie ein sommerlicher Kranz.

Ich holte mir die Liste der Arbeitsordner auf den Bildschirm.

Im Ordner Neue fand ich einen Unterordner H. und sah, dass ich richtig getippt hatte: H bedeutete Heiler. Ich blätterte die Dokumente durch. Es waren überwiegend Textdateien, außerdem gab es Nachrichtenvideos, Links und Artikel aus anderen Zeitungen. Die neueste Textdatei war von gestern, ich öffnete sie.

Der Text war fast komplett fertig, Johanna würde sicherlich das meiste davon in ihrem endgültigen Artikel verwenden. Sobald sie ihn schreiben würde, ergänzte ich im Stillen.

Der Text begann mit einer Schilderung des Familienmordes von Tapiola. Eine fünfköpfige Familie war in den frühen Morgenstunden getötet worden, und die Person mit dem Pseudonym »Heiler« hatte sich zu der Tat bekannt. Die Tatortuntersuchungen hatten ergeben, dass als Letzter der Familienvater gestorben war: Der Manager eines großen Lebensmittelbetriebes und Fürsprecher der Fleischindustrie hatte mit gefesselten Händen und Füßen und zugeklebtem Mund mit ansehen müssen, wie seine Frau und die drei kleinen Kinder durch Kopfschüsse kaltblütig hingerichtet wurden. Zum Schluss war auch der Vater getötet worden, durch einen einzigen Schuss mitten in die Stirn.

Johanna hatte Polizisten, Leute aus dem Innenministerium und die private Security des Managers interviewt. Der Text endete mit einem langen Appell an die Polizei, die Leser wie auch an den »Heiler«.

Außerdem fand ich eine Karte, auf der die Morde den jeweiligen Tatorten zugewiesen waren, sowie eine Tabelle, die Daten, Orte, Eingangszeiten der E-Mails und ihre zentralen Botschaften gegenüberstellte. Nun verstand ich auch den Notizzettel, den ich gefunden hatte: Ost-West oder Nord-Süd. An der Karte war deutlich abzulesen, dass der Mörder in chronologischer Reihenfolge zunächst von West nach Ost und dann von Nord nach Süd vorgegangen war.

Der Inhalt der E-Mails nahm, aus Johannas Zusammenfassungen zu schließen, immer düsterere Töne an, je weiter es nach Süden ging. Manche Mails hatten auch einen überraschend persönlichen Ton: Johanna wurde mit Vornamen angeredet, ihre »wahrhaftige und bedingungslose Art, Journalismus zu machen«, wurde gelobt, es wurde sogar unterstellt, dass sie die Notwendigkeit eines so extremen Handelns verstünde.

Die vorläufig letzte Mail war vierundzwanzig Stunden nach den Morden von Punavuori eingegangen. Eine vierköpfige Familie – der Eigentümer und Geschäftsführer einer großen Autohauskette, seine Frau und ihre beiden Söhne, zehn und zwölf Jahre alt – war tot in ihrer Wohnung gefunden worden. Ohne die E-Mail wäre das Ganze wahrscheinlich als erweiterter Selbstmord durchgegangen, denn auch solche Fälle kamen wöchentlich ans Licht. Zum Entstehen der Selbstmordtheorie hatte die Tatsache beigetragen, dass in der Hand des Vaters die großkaliberige Waffe steckte, mit der geschossen worden war.

Dann traf die Nachricht vom Heiler ein. Sie enthielt die Adresse des Tatortes und die Aufforderung, die Sache genauer zu untersuchen.

Die Ermittler fanden heraus, dass der Vater zwar die ganze Zeit die Waffe in der Hand gehalten, aber jemand anderes gezielt und abgedrückt hatte. Der Vater hatte also jeden Schuss in der Hand und im Körper gespürt. Er hatte

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