Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,57

denn noch eine Rolle, was man tut? Es gibt zwei Möglichkeiten: Ich kann mich als Barmann bis zum Ende in diesem elenden Kaff abplagen, oder ich kann in den Norden verschwinden und dort im eigenen Haus leben und meine Ruhe haben. Und wer von uns ist denn noch unschuldig? Da bin ich ganz einer Meinung mit Pasi. Wir haben alle seit Jahrzehnten gewusst, was kommen wird, und trotzdem hat niemand etwas dagegen unternommen.«

»Ziemlich viele haben es versucht«, sagte ich und spürte, dass inzwischen auch meine Lippen zitterten.

Väntinen stöhnte genervt. In der Luft vor seinem Gesicht erschien eine kleine Dampfwolke, die sofort von den Regentropfen auf den Boden gedrückt wurde.

»Tja«, sagte er vollkommen angeödet. »Wie auch immer, ich habe es eilig.«

Er streckte die Hand mit der Waffe aus. Die Pistolenmündung wuchs vor mir, und ich dachte noch, dass dies das Letzte ist, was ich von der Welt sehe: ein kleines schwarzes Auge, das einmal zuschlägt und alles beendet.

Der Schuss verschloss meine Ohren, ließ meinen Körper erbeben, und auch die Bäume schienen zu wanken. Väntinens Kapuze flog nach hinten. An seinem Kopf fehlte etwas, und ich begriff, dass es die Stirn war. Der Schuss war von rechts gekommen und hatte sie weggerissen. Väntinen kippte nach links, der stirnlose Kopf klatschte mit dem Gesicht nach unten in den nassen Sand.

Hamid kam hinter den Bäumen hervor, wich den Zweigen und Wurzeln aus und sprang auf den Weg. Er sah anders aus als sonst. Sein Blick war finster, das kurze gelockte Haar glänzte wie Stahlwolle vom Regen, und auf dem mageren Gesicht zeichnete sich deutlicher als sonst das Zucken der Kiefermuskulatur ab. In seiner Hand steckte die Pistole aus meinem Rucksack. Ich blickte eine Weile auf sie nieder, dann auf Väntinen.

Seine Hand hielt immer noch die Waffe. Der Lauf war jetzt voller Sand und Erde. Seitlich an seinem Kopf war ein weißer Knochen zu sehen, der vom Regen abgespült wurde. Ich sah Hamid an.

»Ich war nicht immer Taxifahrer«, sagte er.

HEILIGABEND

1 Ein feuerroter Adventsstern leuchtete in der dritten Etage des dunklen Wohnblocks, in einem Fenster fast genau in der Mitte. Es sah aus, als würde das Haus eine in seinem Inneren brennende Flamme behüten. Das Rauschen der Lüftung und das Trommeln des Regens auf die Karosserie waren die einzigen Geräusche, die ich wahrnahm, als meine Ohren wieder funktionierten.

Hamid saß auf dem Fahrersitz, ohne ein Wort zu sagen. Auch meinen Dank hatte er schweigend entgegengenommen. Er starrte vor sich hin und wirkte, als könnte er jeden Moment etwas völlig Unerwartetes tun. Die Waffe hatte er ins Handschuhfach gesteckt. Ich wollte sie eigentlich zurückfordern, aber das erschien mir irgendwie überflüssig. Hamid verstand sie zu benutzen, das war deutlich geworden.

Väntinens Auto hatte ich nach kurzer Suche gefunden. Ein Erdwall von etwa einem Meter Höhe trennte den Parkplatz vom Weg. Ich steckte Johannas Handy zum Aufladen an den Zigarettenanzünder und umfasste in meiner Jackentasche Väntinens Wagenschlüssel, dann stieg ich ohne ein Wort zu sagen aus.

Der Wind war abgeflaut. Die frische Nachtluft roch sauber und herb. Väntinens schwarzer Wagen glänzte, als wäre er gerade gewaschen worden. Die Tropfen auf dem schwarzen Blech schimmerten wie Perlen. Ich setzte mich auf den Fahrersitz.

Das Auto war innen ebenso sauber wie außen. Ich durchsuchte die Fächer an den Türen und den Aufbewahrungsraum zwischen den Sitzen, fand Putzleder, Arbeitshandschuhe und ein paar Münzen. Im Handschuhfach steckten nur die Wagenpapiere. Die kleine und enge Rückbank wirkte völlig unbenutzt. Der Fußraum war, außer unter dem Fahrersitz, sauber, so als wäre er nie berührt worden. Ich stieg aus und bewegte die Sitze, um darunter nachzusehen, fand aber nicht mal Staub.

Als Nächstes ging ich nach hinten und öffnete die Heckklappe. Der Kofferraum war klein und vollgestopft. In der Mitte stand eine große Sporttasche. Ich zog den langen, stählernen Reißverschluss auf: Männerkleidung, vermutlich Väntinens. Als ich eine Weile darin herumwühlte, entdeckte ich, dass auch Sommerkleidung dar­unter war. Heute war Heiligabend. Väntinen hatte es wörtlich gemeint, als er davon sprach, in den Norden zu verschwinden. Und da er schon seine Tasche gepackt hatte, sollte es offenbar bald passieren.

Ich untersuchte noch zwei weitere Taschen und einen kleinen Rucksack und fand auch darin gewöhnlichen Reisebedarf: Kleidungsstücke, Wasch- und Rasierzeug und schließlich Väntinens Pass. Ich nahm die Taschen sogar heraus und sah unter die Matte. Nur der Ersatzreifen und der Wagenheber.

Ich beendete meine Durchsuchung und schloss den Wagen ab. Ich ging wieder zu Hamid. Sein Gesicht war geradeaus gerichtet und sah hinter der nassen Windschutzscheibe wie das einer schlecht gegossenen Wachs­puppe aus. Da kam mir plötzlich eine Idee: Ich konnte Väntinens Reiseziel herausfinden, indem ich

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