Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,58
zu ihm zurückkehrte.
Sein Leichnam lag noch genauso auf dem Sandweg, wie er gefallen war, die Waffe auf dem Boden. Der Regen hatte den Schädelknochen noch weißer gespült und Väntinens Kleidung so durchnässt, dass sie mit dem Boden ringsum zu ein und derselben Schlammmasse verschmolz.
Es war mir unangenehm, seine Taschen zu durchsuchen. Bereits zum zweiten Mal an diesem Abend steckte ich meine Hände in den Mantel eines toten Mannes. Ich fand Väntinens Handy, das ich auf dem Weg zum Taxi an meinem Hemd trockenrieb.
Hamid hatte inzwischen Musik angemacht, es war wieder der Mann, der tausend Worte in der Minute in einer unbekannten Sprache zu einem Hip-Hop-Rhythmus ausstieß. Vielleicht kehrte Hamid so zur Normalität zurück. Allerdings konnte ich ihm vom Rücksitz nicht in die Augen blicken, so dass es sich auch um etwas anderes handeln konnte. Und ich fragte ihn immer noch nicht, wo er gelernt hatte, so zu schießen und Menschen zu töten. Vielleicht würde er es mir irgendwann von selbst erzählen. Oder ich würde irgendwann nicht mehr so erschöpft sein und könnte selbst die richtigen Schlüsse ziehen.
Ich löste die Tastensperre von Väntinens Handy und konnte direkt ohne Code seine SMS und Mails lesen. Lange dauerte es nicht, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte.
Die Bahnfahrkarte galt für eine Person, aber aus dem E-Mail-Anhang ging hervor, dass noch zwei weitere Personen mitreisen würden und dass heute Nacht Start war.
Bis zur Abfahrt blieben noch sechsundvierzig Minuten.
2 Auf dem Bahnhofsplatz herrschte Gewühl. Die Straßenlampen tauchten alles in ein grelles, erbarmungsloses Licht, so als sollten die Leute vor Reiseantritt durchleuchtet werden. Überall hörte man Geschrei, Streit, Betteln, Flehen und Drohungen. Es fuhr jede Stunde ein Zug in den Norden, und nicht einmal das reichte aus, den Andrang zu bewältigen. Immer mehr Menschen kamen aus Ost-, Süd- und Westeuropa. Draußen auf dem Platz wurden Fahrkarten und Wertgegenstände zu Schwarzmarktpreisen verkauft. Hunderte Diebe und Trickbetrüger waren unterwegs, dazu all die Reisenden, einer verzweifelter als der andere. Jede zweite Person schien Polizist, Soldat oder Wachmann zu sein.
Die Drohungen und Forderungen der Erwachsenen und das Weinen der kleinen Kinder zeugten von der Qual und Pein der Menschen. Ich lief so schnell wie möglich mit langen Schritten bis zum Bahnhofsgebäude und drosselte mein Tempo erst, als ich in Sichtweite der Soldaten kam, die mit Sturmgewehren bewaffnet die Türen bewachten. Als Nächstes stellte ich mich bei der Sicherheitskontrolle an, versuchte, nicht an die rennende Zeit zu denken, und sah mich gleichzeitig nach allen Seiten um.
Ich wusste sehr wohl, dass die beiden auf dem Ticket erwähnten Personen nicht unbedingt Johanna und Tarkiainen sein mussten. In dem mich umgebenden Gemisch aus Nationalitäten und Rassen konnte ich keine bekannten Gesichter entdecken. Überall begegneten mir nur Angst und Ratlosigkeit in den Blicken. Jedem war klar, dass nur ein Bruchteil der Reisenden im Norden erträgliche Bedingungen, Wohnraum oder überhaupt etwas zu essen finden würde.
Kommissar Jaatinen erwartete mich an der vereinbarten Stelle. Sein Gesichtsausdruck war nicht mehr ganz so abwesend und miesepetrig wie vor einigen Stunden. Aber er hatte auch noch nicht wieder das Selbstbewusstsein wie bei unserer ersten Begegnung. Jetzt war er ein Mann, der ganz eindeutig irgendwelche Probleme hatte und der wusste, dass auch die anderen es bemerkten.
»Gleis einundzwanzig«, sagte er, ehe ich ihn überhaupt begrüßen konnte.
Ich wollte direkt zu den Bahnsteigen gehen, aber da packte er mich am Arm. Sein Griff unterhalb der Schulter war fest und stoppte mich.
»Tapani«, sagte er mit leiser Stimme. »Falls wir Tarkiainen finden …«
»Wir finden ihn, wenn wir jetzt gehen«, sagte ich und riss mich los.
Jaatinen machte ein paar schnelle Schritte, stellte sich vor mich hin und bohrte seinen Blick in meinen. »Falls wir Tarkiainen finden, kann ich ihn nicht verhaften.«
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Es gibt Probleme mit den DNA-Ergebnissen. Oder das Problem besteht vielmehr darin, dass die Ergebnisse verschwunden sind.«
Ich sagte kein Wort, ging um ihn herum und weiter zur Tür. Er kam hinterher und redete auf mich ein, ich verstand nur einzelne Worte: Computer, abgestürzt, Fehlen von Sicherheitskopien, Katastrophe. Gleis einundzwanzig befand sich weit weg auf der linken Seite. Bis zur Abfahrt blieben noch neun Minuten.
Ich kämpfte mich halb im Laufschritt durch die Menschenmenge und all die schweren Koffer und Rucksäcke. Die überdachte Halle war so voller Lärm, dass ich weder meine noch Jaatinens Schritte auf dem Asphalt hörte. Ich roch die Suppenküchen in der Ferne und die Verzweiflung der Leute. Es war Heiligabend, und niemanden interessierte das.
Ich passierte ganze Länder und Erdteile, durchquerte Sprachgebiete und Regionen mit ihren Dialekten. Helsinki war endlich international. Aber ganz so hatten wir uns das wohl seinerzeit nicht erträumt.
Gleis einundzwanzig war