Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,52

dem Zeitpunkt der Videoaufnahme zurück, vor dem ich bereits mehrere Stunden verbracht hatte. An der Ecke Fredrikinkatu und Urho Kekkosen katu hatte Johannas Handy das letzte Mal Signale gesendet. Die Gegend wirkte noch genauso verregnet und vom Wasser schwarz glänzend wie beim letzten Mal. Ich ließ die Bilderflut laufen.

Kurz vor dem Zeitpunkt, an dem das Handy aus dem Netz verschwand, beugte ich mich instinktiv vor. Der Anblick war immer noch verschwommen und voller Lichtreflexe, mehr ein Gemälde als ein Foto oder ein Film. Eine Minute vor dem entscheidenden Moment war am Ende der Urho Kekkosen katu etwas zu sehen, das ich irgenwie schon erkannte, ehe es eigentlich möglich war. Und natürlich wusste ich schon von den E-Mails an Johanna, nach wem ich Ausschau halten musste.

Die Gestalt wirkte zunächst einfach nur wie mit zwei Pinselstrichen gezeichnet. Ihre Bewegungen verrieten Hast, sie kam mit langen Schritten von Sekunde zu Sekunde näher und wuchs. Aus den zwei dunklen Pinselstrichen wurden mehrere und dann ein menschliches Wesen mit immer zahlreicheren individuellen Zügen, wie etwa der Art zu gehen, zur Seite zu blicken oder die Hand in die Tasche zu stecken. Ich wartete auf den Moment, in dem ich mir ganz sicher sein konnte.

Die Gestalt erreichte die Straßenecke, nahm etwas aus der Jackentasche, berührte es mit der anderen Hand und steckte es wieder ein. In derselben Sekunde war Johannas Handy aus dem Netz verschwunden. Ein großer Laster überquerte die Kreuzung, ihm folgte ein Krankenwagen mit Blaulicht. Für einen Moment wirkte die Gegend wieder wie ein impressionistisches Gemälde, und ich begriff, wie mangelhaft ich vorher das Bild analysiert hatte. Als der Laster und das Ambulanzfahrzeug weg waren, stand die Person einen Moment lang so reglos vor dem Fußgängerüberweg, dass ich sie vorher gar nicht als Mensch erkannt hatte.

Ich hielt das Bild an und vergrößerte es. Die aufrechte Gestalt wuchs, und ich erkannte sie immer deutlicher. Als nur noch das Gesicht auf den Monitor passte, regulierte ich die Schärfe und lehnte mich zurück. Ich konnte sogar die Bartstoppeln an Gromows Kinn erkennen.

16 VON: Gromow, Wassili

AN: Lehtinen, Johanna

GESENDET: 21. Dezember 01.37 Uhr

BETREFF: Letzte kleine Bitte

Johanna, ich möchte hier ein letztes Mal klarstellen, dass ich deine Meinung respektiere. Ich verstehe, wenn du sagst, dass du glücklich verheiratet bist und wir nur Arbeitskollegen sind. Und ich verstehe ebenfalls, dass du nach dieser Geschichte nicht mehr mit mir arbeiten willst – so traurig und ungerecht das auch sein mag. Ich will ehrlich deinen Entschluss akzeptieren, künftig mit anderen Fotografen zu arbeiten. Aber vorher habe ich eine kleine Bitte. Ehe sich unsere Wege trennen, möchte ich, dass du noch einmal darüber nachdenkst und dir all das vor Augen führst, was wir zusammen erlebt haben. Erinnerst du dich an die Ge­fahren­situation im Kosovo, als wir mitten in ein Feuergefecht ­gerieten? Erinnerst du dich noch, an wen du dich geklammert hast, an wessen Schulter du dich lehnen konntest? Und weißt du noch, was geschah, als der Motor unseres Kleinbusses am Ufer des Eismeeres streikte und wir fast im kalten Wind erfroren? Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast, als ich den Motor wieder in die Gänge bekam? Ich weiß es noch. Du sagtest, dass du mir ewig dankbar bist. Ewig, Johanna. Das waren deine eigenen Worte. Jetzt habe ich eine Bitte an dich, und wenn du das damals wirklich ernst gemeint hast, akzeptierst du sie und willigst ein, ehrlich zu dir selbst und auch zu mir zu sein. Ich möchte mit dir noch einmal alles von Angesicht zu Angesicht besprechen und von dir die Wahrheit hören. Das ist das Mindeste, was du für den Menschen tun kannst, der dir das Leben gerettet hat. Und wenn du dann weiterhin der Meinung bist, dass ich nicht in dein Leben gehöre, muss ich das akzeptieren. Aber ich bitte um diese eine Möglichkeit, dieses eine Gespräch unter vier Augen. Ich fürchte, dass ich mich dir sonst erneut und auf andere Weise ­nähern muss.

Wassili

17 Ich fand das Reihenhaus im Stadtteil Maunula, am Rand des Zentralparks. Der Ziegelbau aus den 50ern bestand aus sechs Wohnungen. Aus der Beleuchtung zu schließen, war überall jemand zu Hause. Gromows Wohnung war die vorletzte von links. Im Obergeschoss schimmerte gedämpftes Licht.

Gromows Adresse war leicht zu ermitteln gewesen, aber Jaatinens Interesse konnte ich damit nicht wecken. Als ich ihm die E-Mail und das Foto der Überwachungs­kamera gezeigt hatte, hatte er sich mit der Bemerkung begnügt, dass das vielleicht eine Spur war. Ich wäre fast ausgerastet. Vielleicht eine Spur? Und als ich ihn zum Mitkommen bewegen wollte, hatte er wegen Zeitmangel abgelehnt. Damit war

readonlinefreenovel.com Copyright 2016 - 2024