Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,101

fast vergessen. Du sprichst so gut wie nie von deiner Frau.«

»Vielleicht sollte ich sagen, ich war verheiratet. Offiziell bin ich es wahrscheinlich immer noch. Sehr kurze Ehe, 1915. Mit Hilda Leesman. Wir waren zwei Wochen zusammen in Paris, wo sie auf die Ballettschule ging, und höchstens drei bis vier Monate in Russland. Dann erkrankte sie schwer an Schwindsucht.«

»Wie schrecklich. Wie dein Bruder, deine Mutter und dein Vater. Was ist dann passiert?«

»Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass ihre Familie sie in ein Sanatorium im Schwarzwald gebracht hat. Ich bin nicht sicher, ob sie noch lebt. Als du sagtest, ›wie schrecklich‹, gab es mir einen Stich, weil mir das nicht sehr nahe geht. Ich denke nie an sie. Und ich bezweifle, ob sie an mich denkt. Wir haben uns entfremdet. Ich erinnere mich, dass sie kurz vor unserer Trennung zu mir sagte, dass ich mich nie nach ihrem Leben erkundigt hätte, sie nie gefragt hätte, was sie den ganzen Tag macht.«

»Nun«, sagte Friedrich und schaute auf die Uhr, »sind wir wieder genau bei dem Grund, weshalb du mich aufgesucht hast. Wir begannen mit ›kein unbefangenes Plaudern‹, ›kein Interesse an anderen‹. Dann beschäftigten wir uns mit dem Teil von dir, der wie eine Sphinx sein möchte. Dann kehrten wir zu deiner Sehnsucht nach Hitlers Liebe und Zuwendung zurück und dazu, wie enttäuschend es für dich ist zu beobachten, dass er anderen den Vorzug gibt, während du außen vor bleibst und zusehen musst. Und schließlich sprachen wir über deine Distanz zu deiner Frau. Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit, um Nähe und Distanz näher zu betrachten. Du sagtest, du fühltest dich hier sicher?«

Alfred nickte.

»Und wie fühlst du dich mir gegenüber?«

»Sehr sicher. Und sehr verstanden.«

»Und du hast den Eindruck, dass du mir nahe bist? Dass du mich magst?«

»Ja, sowohl als auch.«

»Darin liegt heute unsere große Entdeckung. Ich glaube, du magst mich tatsächlich, und ein Hauptgrund dafür liegt darin, dass ich an dir interessiert bin. Ich erinnere mich an deine Bemerkung von vorhin, dass du nicht glaubst, an anderen interessiert zu sein. Doch Menschen mögen nun einmal Menschen, die an ihnen interessiert sind. Das ist die wichtigste Botschaft, die ich heute für dich habe. Ich sage es nochmals: Menschen mögen Menschen, die an ihnen interessiert sind.

Wir haben heute gute Arbeit geleistet. Es ist unsere erste Sitzung, und du bist schon mittendrin. Es tut mir leid, dass ich jetzt Schluss machen muss, aber es war wirklich ein langer Tag, und meine Energie lässt allmählich nach. Ich hoffe wirklich, dass du mich oft besuchen kommst. Ich habe das Gefühl, dass ich dir helfen kann.«

25

AMSTERDAM, 1658

Innerhalb des folgenden Jahres unterhielt Spinoza – nicht mehr Baruch, sondern jetzt und für alle Zeiten Bento (oder Benedictus in seinen Schriften) – eine seltsame, nächtliche Beziehung zu Franco. Fast jede Nacht, wenn Bento in seiner kleinen Dachstube im Haus van den Endens in seinem Himmelbett lag und den Schlaf herbeisehnte, tauchte Francos Bild in seinen Gedanken auf. So nahtlos und verstohlen war sein Auftritt, dass Bento entgegen seiner sonstigen Art nie dahinterzukommen versuchte, weshalb er sich Franco so oft vergegenwärtigte.

Aber zu anderen Zeiten dachte Bento nie an Franco. Seine wachen Stunden waren mit intellektueller Arbeit vollgestopft, die ihm mehr Freude bereitete als irgendetwas, das er bisher erlebt hatte. Immer wenn er sich als gebrechlichen Alten vorstellte, der über sein Leben reflektierte, wusste er, dass er genau diese Zeit zu seiner besten Zeit wählen würde, diese Tage, geprägt von der Verbundenheit mit van den Enden und den anderen Schülern, mit denen er seine Latein- und Griechischkenntnisse perfektionierte und sich den großen Themen der antiken Welt zuwandte: Demokrits atomistischem Universum, Platons Form des Guten, Aristoteles’ Unbewegtem Beweger und der stoischen Ungebundenheit von Leidenschaften.

Sein Leben war schön durch seine Einfachheit. Bento stimmte mit Epikur vollkommen überein, der behauptete, die Bedürfnisse des Menschen seien gering und leicht zu erfüllen. Bento brauchte nur ein Zimmer mit Verpflegung, ein paar Bücher, Papier und Tinte. Die dafür notwendigen Gulden konnte er mit dem Schleifen von Linsen für Brillen an nur zwei Wochentagen und mit Hebräischunterricht für die Kollegianten verdienen, welche die Heilige Schrift in ihrer Originalsprache lesen wollten.

Die Lateinschule ermöglichte ihm nicht nur die Ausübung eines Berufes und gab ihm ein Zuhause, sondern bot ihm auch ein gesellschaftliches Leben – zuweilen mehr, als es Bento lieb war. Man erwartete von ihm, mit der Familie van den Enden und den in der Lateinschule beherbergten Schülern das Abendessen gemeinsam einzunehmen, doch stattdessen ging er oft mit einem Teller Brot und hartem holländischen

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