Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,102

Käse sowie mit einer Kerze in sein Zimmer und las. Sein häufiges Fehlen am Esstisch grämte Madame van den Enden, die ihn für einen gewandten Gesprächsteilnehmer hielt und erfolglos versuchte, ihn zu mehr Geselligkeit zu ermuntern. Sie bot ihm sogar an, seine Lieblingsgerichte zu kochen und auf koschere Zubereitung zu achten. Bento versicherte ihr, dass er sich in keiner Weise an Speisevorschriften hielte, sich aber nur nichts aus Essen machte und durchaus mit dem Einfachsten zufrieden wäre – mit Brot, Käse, seinem täglichen Glas Bier und seinem langstieligen Tonpfeifchen, das er zum Abschluss gern schmauchte.

Außerhalb der Unterrichtsstunden mied er die Gesellschaft seiner Kommilitonen mit Ausnahme von Dirk, der schon bald ausziehen wollte, um Medizin zu studieren, und natürlich der frühreifen, bewundernswerten Clara Maria. Doch im Allgemeinen zog er sich nach kurzer Zeit auch von diesen beiden zurück und gab der Gesellschaft der zweihundert gewichtigen, muffigen Bände in van den Endens Bibliothek den Vorzug.

Abgesehen von seinem Interesse an den wunderbaren Gemälden, die in den Kunsthandlungen der kleinen Gässchen ausgestellt waren, welche vom Rathaus abzweigten, hatte Bento für Kunst nicht viel übrig und widerstand van den Endens Bemühungen, seine ästhetische Sensibilität für Musik, Poesie und Erzählkunst zu steigern. Aber wenn es um die Leidenschaft des Direktors für das Theater ging, gab es kein Entrinnen. Klassisches Drama könne nur gewürdigt werden, betonte van den Enden stets, wenn es laut gelesen wurde. Also nahmen Bento und die anderen Schüler gehorsam an dramatisierten Lesungen der Klasse teil, auch wenn Bento zu schüchtern war, genügend Emotionen in seinen Text zu legen. Normalerweise stellte der Direktor des Amsterdamer Stadttheaters und van den Endens guter Freund der Lateinschule seine Bühne für wichtige Inszenierungen zur Verfügung, die vor kleinem Publikum, hauptsächlich Eltern und Freunden der Schüler, gezeigt wurden.

Im Winter 1658, über zwei Jahre nach Bentos Exkommunikation, wurde der Eunuchus von Terenz inszeniert. Bento spielte die Rolle des Parmeno, eines frühreifen Sklaven. Beim erstmaligen Durchlesen seines Texts musste er lächeln, als er den folgenden Abschnitt las:

»Wer diesen Hohn auf jegliche Vernunft

Methodisch zu betreiben dächte, käme

Wohl grad’ so weit wie einer, der verrückt

Sein wollte nach vernünftiger Methode.«

Bento wusste, dass van den Endens schräger Sinn für Humor im Spiel war, als er ihm diese Rolle zugewiesen hatte. Er hatte Bento ständig wegen seines hypertrophierten Rationalismus gescholten, der keinen Platz für ästhetische Sensibilität zuließe.

Die Aufführung war glanzvoll, die Schüler spielten ihre Rollen mit großem Vergnügen, das Publikum lachte oft und applaudierte lange (obwohl es von den lateinischen Dialogen wenig verstand), und Bento verließ das Theater in bester Stimmung und Arm in Arm mit seinen beiden Freunden Clara Maria (welche die Kurtisane Thaïs gespielt hatte) und Dirk (in der Rolle des Phaedria). Plötzlich trat ein Mann mit weit aufgerissenen Augen und irrem Blick aus der Dunkelheit und schwang ein langes Fleischermesser. Er brüllte auf Portugiesisch: »Herege, Herege!« (»Ketzer, Ketzer!«), stürzte sich auf Bento und zog ihm das Messer zweimal quer über den Bauch. Dirk kämpfte mit dem Angreifer und schlug ihn zu Boden, während Clara Maria Bento zu Hilfe eilte und seinen Kopf in ihren Armen barg. Dirk konnte mit seiner schmächtigen Statur dem Angreifer nichts entgegensetzen, der ihn abschüttelte und mit dem Messer in der Hand Hals über Kopf in die Dunkelheit floh. Van den Enden, ein früherer Arzt, eilte herbei und untersuchte Bento. Als er die beiden tiefen Schnitte in seinem schweren, schwarzen Mantel entdeckte, knöpfte er ihn hastig auf und sah, dass das Hemd ebenfalls zerfetzt und blutbefleckt war, das Messer aber nur die Haut geritzt hatte.

Bento, der unter Schock stand, konnte, gestützt von van den Enden und Dirk, die drei Häuserblocks auf eigenen Beinen nach Hause gehen und stieg langsam die Treppe hinauf in sein Zimmer. Die Baldriantropfen, die ihm der Lehrer/Arzt verabreichte, würgte er widerwillig hinunter. Er legte sich hin, Clara Maria setzte sich zu ihm ans Bett, hielt seine Hand, und bald fiel er in einen tiefen, zwölfstündigen Schlaf.

Am folgenden Tag regierte Chaos im Haushalt van den Endens. Frühmorgens klopften Beamte der Stadt an die Tür und holten Informationen über den Angreifer ein; später erschienen zwei Diener mit Briefen schockierter Eltern, die van den Enden vorwarfen, nicht nur ein skandalöses Stück über Sexualität und Transvestitismus aufgeführt, sondern auch einer jungen Frau (seiner Tochter) erlaubt zu haben, eine Rolle darin zu spielen – und noch dazu die einer Kurtisane. Der Schulleiter blieb jedoch bemerkenswert ruhig – nein, mehr als ruhig –, die Briefe erheiterten ihn vielmehr, und er lachte in sich hinein, als er daran dachte, dass Terenz sich angesichts dieser empörten, calvinistischen Eltern bestimmt köstlich amüsiert hätte. Bald

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