Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,61
»Es ging um Menschlichkeit und darum, zu tun, was letztlich richtig war. Wer, glaubst du denn, waren die Ermordeten? Wohltäter? Humanisten? Sie waren selbstsüchtige, gleichgültige Narzissten. Sie waren die eigentlichen Mörder.« Er lachte kurz trocken auf. »Anders kann man sie eigentlich nicht bezeichnen. Sie haben immer weitergemacht, obwohl sie längst wussten, dass sie zur Erdzerstörung beitrugen. Sie haben weiter gemordet – indem sie logen. Lügen ist das Schlimmste. All das Gerede von Umweltfreundlichkeit, Ökologie und Achtung der Natur! So als könnte in Plastik eingeschweißte Elektronik oder das Bewässern von Baumwolle mit Trinkwasser je etwas anderes sein als weitere Zerstörung. Oder als das Ersetzen unersetzlicher Dinge durch Müll.«
Er machte wieder einen Schritt zur Seite. Ich folgte ihm, stieg erst über eine Schiene und dann über die andere. Er fuhr fort, wobei sich seine Stimme gleichmäßig hob.
»Du als kluger Mensch glaubst wohl nicht wirklich, dass sich das Problem durch Bio-Lebensmittel oder Hybridautos lösen ließe? Oder dadurch, dass man umweltfreundliche Produkte kauft? Was bedeutet das überhaupt? Warum werden in der Marktwirtschaft sowjetische Termini benutzt, wie etwa sozialistische Freiheit? Verstehst du, Tapani? Wir haben in einer Diktatur gelebt. Und sollte man nicht gegen eine Diktatur kämpfen?«
Er stand jetzt neben dem äußeren Gleis. Ich hatte ihm zugehört und war ihm gefolgt, ohne ein Wort zu sagen. Als der Boden bebte, blickte ich nach hinten. Ein Zug kam auf uns zu und würde uns innerhalb einer Minute erreichen.
»Wir befinden uns im freien Fall, Tapani. Man kann nur noch das tun, was man im Herzen als das Richtige erkannt hat. Wir müssen das Gute verteidigen, auch wenn wir wissen, dass wir den Kürzeren ziehen werden.«
Der Zug ließ die Erde erzittern. Ich hörte Stahl auf Stahl und das Quietschen der Räder auf den Schienen.
»Ich bin für das Gute, Tapani. Ich hatte früher kein geringeres Ziel als die Rettung der Welt. Jetzt können wir die Welt nicht mehr retten, aber wir sollten dafür sorgen, dass das Gute mindestens ebenso lange lebt wie der Egoismus und das Böse. Das Recht siegt vielleicht nicht, aber es existiert immer noch.«
Der Zug stieß ein langes Warnsignal aus. Ich hob die Waffe, ohne zu wissen warum. Der Zug brauste heran, ich trat ein paar Schritte zurück und blickte wieder in Tarkiainens Richtung. Er stand mitten auf den Schienen im Licht der Scheinwerfer. Das Tuten wurde von den Felsen zurückgeworfen. Dann raste der Zug wenige Zentimeter an mir vorbei, ich sah Tarkiainen nicht mehr und senkte die Waffe.
Als der Zug mit all seinen Waggons vorbeigerattert und der Lärm verstummt war, blickte ich vorsichtig auf die Schienen, auf den Punkt, an dem ich Tarkiainen zuletzt gesehen hatte, und bereitete mich vor – worauf? Auf den Anblick von Körperteilen, weißen Knochensplittern, verschiedenfarbigen inneren Organen?
Ich sah groben Schotter, Schwellen und im Dunkeln glänzende Schienen. Als ich den Blick hob, sah ich einen hohen Zaun und eine noch höhere, vor Nässe glänzende Felswand. Ich blickte mich um. In der Ferne konnte ich schemenhaft das Ende des Zuges sehen, dann verschwand auch das, und es gab nur noch endlose Schienen.
In der anderen Richtung sah ich Rangiergleise, ein gewaltiges Stahlnetz aus Schienensträngen, und am Horizont schließlich den hellen Bahnhof, der selbst unter dem Regenschleier leuchtete wie das größte gleichmäßig brennende Lagerfeuer der Welt. Keine Spur von Pasi Tarkiainen.
Ich drehte mich einige Male um meine eigene Achse und bekam nur eiskalten Regen in die Augen. Die Kälte bemächtigte sich wieder meines Körpers und betäubte ihn. Schließlich steckte ich die Waffe in die Jackentasche und machte mich auf den Weg zum Bahnhof.
Jemand stieg vom Bahnsteig auf die Schienen herunter und kam mir entgegen. Die Person bewegte sich mit schnellen Schritten, von denen jeder dritte oder vierte in ein gefährliches Taumeln mündete. Ich erkannte sie dennoch an ihrem Gang. Ich erkannte den blaugrauen Mantel, der jetzt ein bisschen schief auf ihrem Rücken hing, und die schwarzen, weiten Hosen. Ich wunderte mich, warum sie ihre Arme krampfhaft vor dem Körper zusammenpresste und sie nicht seitlich pendeln ließ oder mit ihrer Hilfe das Gleichgewicht wahrte. Als ich die Haare und das Gesicht sah, war ich mir absolut sicher. Die Haare waren schmutzig und verfilzt, das Gesicht bleich und nass. Auf der rechten Wange entdeckte ich eine blutige Schramme, am Kinn einen dunklen Fleck. Die Lippen waren trocken und rissig. Und ich sah, dass ihre Hände an den Gelenken zusammengebunden waren. Ihre Augen glänzten ungesund und zeugten von totaler Erschöpfung, aber auch von Standhaftigkeit und Kraft.
Johanna fiel mir entgegen. Ich küsste ihr Haar, drückte ihren Kopf an meine Brust. Sie klammerte sich zuerst an meinen Mantel, dann