Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,60

und meine Hand schon fast abgestorben war. Ich machte kurze Schritte in Tarkiainens Richtung. Nicht, weil ich ihm unbedingt näher kommen wollte, sondern weil die Bewegung weniger schmerzte und die Muskeln weniger beanspruchte als das Stillstehen.

»Was willst du?«, fragte er. »Mich erschießen?«

Ich nahm alle Willenskraft zusammen, um mein Keuchen einen Moment lang zu unterdrücken.

»Wenn es sein muss«, sagte ich und sog gierig die Luft ein.

Ich stand jetzt fünf, sechs Meter von ihm entfernt. Rechts raste der zweite Zug an uns vorbei, der Boden bebte, meine Füße zitterten, das Rattern dröhnte dumpf durch den Brustkorb.

»Du solltest dich mal hören«, sagte Tarkiainen und wiederholte meine Worte: »Wenn es sein muss.«

Sein Gesicht glänzte feucht, sah aber ansonsten aus wie auf den Fotos, die ich kannte, sehnig und energisch, sogar schön. Sein Blick war intelligent und ausgeglichen, das Haar kurz und gepflegt. Auch sein halblanger Mantel, das Hemd, die Jeans und die Stadtturnschuhe waren äußerst stilvoll. So, wie er da auf den Schienen stand, wirkte er wie ein Model bei einem Shooting, bei dem schöne Menschen in eine hässliche Umgebung gestellt werden: verlassene Fabrikhallen, alte Werkstätten oder, wie jetzt, auf nächtliche Rangiergleise.

Mein Atem beruhigte sich langsam. Im Oberschenkel pochte es, und meine rechte Hand mit der Waffe war taub.

»Du weißt, was ich suche«, sagte ich.

Tarkiainen erwiderte nichts.

»Johanna«, fuhr ich fort und wischte mir mit der freien Hand Schweiß und Regen von den Augenlidern.

Seine Miene blieb unverändert. »Väntinen hast du anscheinend schon gefunden«, sagte er, und ich merkte, dass er dabei auf die Waffe in meiner Hand blickte. Ich sah selbst hin.

Die Waffe ähnelte der von Väntinen, die nun im Sand und Matsch des Zentralparks versank.

Ich nickte und sah wieder mein Gegenüber an.

»Hoffentlich hat er gekriegt, was er verdient hat«, sagte Tarkiainen.

Ich nickte erneut.

»Ein brutales, krankes Stück Scheiße«, sagte er.

»Wer?«, fragte ich.

»Väntinen. Wie du wohl weißt.«

»Und du nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Obwohl du mitgemacht hast, Familien zu ermorden?«, fragte ich.

»Väntinen hat gemordet«, sagte Tarkiainen. »Und es genossen. Ich habe niemanden ermordet, sondern nur getan, was getan werden musste.«

»Und das war?«

»Du brauchst gar nicht den Entsetzten oder den Missbilligenden zu spielen. Du kannst der nette Kerl sein, der du bist, und einfach sagen, dass du verstehst«, erklärte Tarkiainen und machte eine kleine Pause, ehe er fortfuhr: »Denn du verstehst es, wenn du auch nur halb so schlau bist, wie Johanna behauptet. Du weißt gut, dass es nicht meine Absicht war, Familien zu ermorden, sondern zu zeigen, dass Taten auch Folgen haben.«

»Das solltest du den kleinen toten Kindern erzählen.«

»Was haben sie denn verloren?«, fragte er und machte einen Schritt zur Seite. Ich bewegte meine Hand und folgte ihm mit der Waffe. Er fuhr fort: »Den Mangel an Essen, an sauberem Wasser, an allem, gefolgt vom endgültigen Ersticken. Was hätte es noch gegeben, das sie hätten genießen können – Kannibalismus, Pest, Krieg, jeder gegen jeden, auf einer einzigen riesigen Müllhalde?«

»Vielleicht hätten sie das gern selbst entschieden«, sagte ich und schwenkte die Waffe noch ein bisschen nach links. Tarkiainen machte kleine Schritte zum äußeren Gleis hin. Wegrennen konnte er von dort nicht.

»Das war ja von Anfang an das Problem«, sagte er. Sein Gesicht wirkte jetzt angespannt und erregt. »Dass die Menschen wählen konnten, endlos und ohne Grenzen. Deshalb sind wir jetzt hier. Auch wir zwei.«

Rechts donnerte der nächste Zug vorbei. Die beiden Männer auf den Gleisen mussten doch mal irgendwann jemandem auffallen. Wo waren all die Wachmänner, Soldaten und Polizisten vom Bahnhof?

Ich sah mich um. Der Bahnhof leuchtete durch den Regen, aber hier draußen in der Dunkelheit und halb hinter den Felsen konnte uns niemand sehen.

»Wo ist Johanna?«, fragte ich gequält.

»Nicht so eilig, lass uns plaudern«, sagte Tarkiainen. Auf seinem angespannten Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Das heißt, du kannst mich natürlich jederzeit erschießen. Oder was willst du machen? Mich der Polizei übergeben?«

Ich musste an Jaatinens Worte denken. Das Beweis­material war verschwunden. Tarkiainen könnte nicht verurteilt, nicht mal verhaftet werden. Wenn ich ihm das erzählen würde, würde er als Sieger vom Platz gehen, und dann bliebe als einzige Alternative, ihn zu erschießen. Ich glaubte nicht, dass ich das Zeug dazu hatte. Andererseits hatte ich schon mal irgendwo gehört, dass jeder von uns zu allem imstande ist.

»Worüber möchtest du plaudern?«, fragte ich, um ein paar Sekunden zu gewinnen.

»Willst du gar nicht wissen, worum es uns ging?«

»Väntinen hat es mir gesagt: um Geldgier und Geschäfte. Ich könnte noch hinzufügen: um Mordgeilheit.«

Tarkiainen schüttelte unzufrieden den Kopf. »Um nichts von alledem«, sagte er entschieden, so als befände er sich in einer Diskussionsrunde und stünde nicht vor der Mündung einer Waffe auf den Bahnschienen.

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