Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,28

die Jackenärmel. Einer der Männer von den Wasserwerken kam mir entgegen. Er wirkte in seinem Winteroverall und mit seinem roten Gesicht wie ein riesiger Grundschüler. Ich fragte ihn, was passiert war. »Wie man sieht«, sagte er, »ein Erdrutsch.« Mehr erfuhr ich nicht, und eigentlich deutete auch nichts darauf hin, dass es nötig gewesen wäre.

Ich umrundete die Kreuzung und blickte abwechselnd nach Töölö zur Felsenkirche, dann zur Malminkatu, der Fredrikinkatu und wieder zur Felsenkirche. Zwischendurch schielte ich immer mal wieder zur Grube. Da keine der Richtungen mir etwas sagte, auch das Erdloch nicht, und da der Wind immer ruppiger wehte, gab ich auf und ging nach Töölö zu Ahti und Elina.

War dies der Zeitpunkt, mir einzugestehen, dass ich ­Johanna doch nicht so gut kannte, wie ich dachte?

Ich versuchte, so neutral wie möglich das Geschehene zu rekapitulieren, versuchte die Wahrheit aus der Einbildung herauszufiltern, zu trennen zwischen schlimmster Befürchtung und dem Verdrängen von Tatsachen. Leicht war es nicht, da es um die Frau ging, die ich liebte. Wie sehr ich mich auch anstrengte, mir fiel beim besten Willen nicht ein, wann Johanna je auch nur mit einem Wort Tarkiainen erwähnt oder irgendetwas von Kivinokka angedeutet hätte. Ich hatte auch keine Idee, warum wir dar­über hätten reden sollen. Es hatte keinen Grund gegeben. Wer hätte ahnen können, dass sich Tarkiainens und Johannas Wege noch einmal kreuzen würden?

Ich überquerte die Brücke, die die Südliche und Nördliche Bahnhofstraße miteinander verband, und blickte hinunter. Die seinerzeit in einer Schlange hinterein­ander geparkten Wohnmobile bildeten jetzt eine Kette von Kleinsthäusern. Innerhalb weniger Jahre war in dem schmalen Streifen ein eigener Stadtteil gewachsen. In den von unten aufsteigenden Gerüchen, dem Dunst und Qualm konnte ich gegrilltes Fleisch, Benzin und ­natürlich Selbstgebrannten, Pontikka, ausmachen. Kinder schrien, entweder beim Spielen oder aus anderen Gründen.

Ich sah auf die Uhr, fast zehn. Die Minuten und Stunden vergingen immer schneller. Ich nahm mein Handy und rief Johanna an, mit dem bekannten Ergebnis. Wie oft würde ich noch anrufen, wie oft noch die tonlose Frauenstimme hören, die mir immer wieder das sagte, was ich nur allzu gut wusste? Vielleicht mussten aber auch die Dinge wiederholt werden, bis das Wiederholen zu einer Lösung geführt hatte oder überflüssig geworden war.

Eine aus Richtung Innenstadt heranratternde volle Straßenbahn fuhr nur wenige Meter an mir vorbei. Die Fahrgäste quetschten sich mit ihren Mänteln an die Glasscheiben. Unzählige Menschen gingen nach wie vor zur Arbeit, lebten ihren Alltag, ihr Leben. Die Bahn hielt an einer Haltestelle, und ich ging vorbei, mit dem kalten Wind und den Gerüchen von verbranntem Fleisch und wütendem Ethanol im Rücken.

Ich kam zu Ahtis und Elinas Eingang, drückte die Klingel und wartete einen Moment. Die Kamera bewegte sich wie die Fühler eines Insekts, als sie ihre kleine Runde unter der Kuppel drehte. Sowie sie sich vergewissert hatte, dass ich kein Feind war, hielt sie an. Das Türschloss öffnete sich, und ich konnte eintreten. Der Fahrstuhl war zwar unten, aber ich nahm die Treppe. In dem stillen Haus und auf den Steinstufen hallten meine Schritte laut wie Trommelschläge.

Der Geruch eines Kranken schlug mir gleich an der Tür entgegen. Elinas Gesicht wirkte unter der Lampe im Flur klein und bleich. Sie nickte zur Begrüßung, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Ich zog die Tür hinter mir zu, legte meine Sachen ab und nahm Kurs aufs Wohnzimmer. An der Schlafzimmertür machte ich halt, hörte Ahti schnarchen und sah das Fußende des Bettes, seine Füße unter der Decke. Ich wollte eintreten, besann mich aber und ging weiter.

Elina saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Sofa, ihre langen Haare hingen als Zopf über die linke Schulter. Wieder wirkten die weiche Beleuchtung und die künstlich geschaffene Stimmung im Raum allzu heimelig, und ich begriff jetzt, was mich daran störte. Es war wie eine Traumwelt, wie der Versuch, in die Vergangenheit zurückzukehren.

Ich setzte mich in einen riesigen schwarzen, mit grobem Stoff bezogenen Sessel, der sich im Nu erwärmte, so dass sich mein müder Körper entspannte. Wieder merkte ich, wie erschöpft und hungrig ich war, ohne dass ich Lust hatte, etwas zu essen oder überhaupt stillzusitzen.

»Zum Glück schläft er wieder«, sagte Elina. »Wenn er wach ist, ist er das nicht wirklich. Vorhin redete er so wirr, dass ich Angst bekam.«

»Tut mir leid, dass Ahti krank ist und eure Abreise sich verzögert.«

Elina lachte kurz auf, aber Freude enthielt der kurze Laut nicht. Sie holte Luft, stieß sie sofort wieder aus und fasste sich mit der linken Hand an die Schläfe, so als wäre ihr etwas eingefallen. »Entschuldige, aber ich bin ein wenig müde«, sagte sie, und

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