Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,26
ihn, ob er etwas über sie wusste. Jaatinen musterte die Männer eine Weile und zuckte mit den Schultern. Dann richtete er den Blick wieder nach vorn auf die Straße, so als hätte sie ihn zur Aufmerksamkeit ermahnt.
Die Ampel schaltete auf Grün, und wir konnten weiterfahren.
»Manchmal fragt man sich, was das alles soll«, sagte er. »Worüber wachen die Typen da? Dass die Leute in der richtigen Reihenfolge Essen bekommen, das sowieso nicht reicht? Wer zahlt für so was, und warum?«
Jaatinen hielt wieder an einer Ampel. Jetzt zeigte sich bei ihm der Anflug eines Lächelns, das trotz aller Flüchtigkeit und Traurigkeit überraschenderweise nicht nur sein eigenes Gesicht, sondern auch das ganze graue Auto erhellte.
Er streifte mich mit einem Blick und sagte weicher: »Und bringt es irgendwas, dass ich mir darüber Gedanken mache?«
Die vom Regen und der Feuchtigkeit dunkel gewordenen Wände des Opernhauses, seine mit Planen und Sperrholz bedeckten Fenster und der Müll, der sich davor angesammelt hatte, wirkten noch immer wie aus einer andern Welt, die einem schier unvorstellbar schien.
»Ja, das ist alles sehr seltsam.«
Jaaatinen antwortete nicht, seine Hand umfasste den Schalthebel. Er legte den Gang ein, schaltete dann aber sofort wieder in den Leerlauf und nahm den Fuß von der Kupplung. »Darf ich dich mal was fragen?«
Er schien es ehrlich zu meinen, und so sagte ich: »Klar.«
»Was hast du vorher gemacht?«
»Ich war Lyriker.«
Er schwieg eine Weile. Komisch, dass sich die Reaktion auf dieses einfache Wort nicht änderte, obwohl sich die ganze Welt ringsum veränderte. Als Nächstes würde er vermutlich nach den Buchtiteln fragen und dann erzählen, dass er die Gedichte weder gelesen noch je davon gehört hatte.
»Wie heißen die Bücher?«, fragte er.
»Worte war das erste. Dann erschien Der Wind des Winters, und das dritte hieß Erinnern.«
»Ich fürchte, ich habe nie …«
»Das macht rein gar nichts«, sagte ich und lächelte. »Andere auch nicht. Ich habe nur diese drei Bücher veröffentlicht. Von jedem wurden etwa zweihundert Stück verkauft, und da sind die Bibliotheksankäufe schon mitgerechnet. Die Bücher sind schon lange verschwunden.«
Wir fuhren weiter und kamen an eine Ampel. Dort versuchte ein betagter Mann in einem langen dunkelgrauen Mantel, einer älteren Frau, die mit kurzen unsicheren Schritten die Straße überquert hatte, auf den Bürgersteig zu helfen, ehe die Ampel umschaltete. Der Bordstein war für die Frau unüberwindlich hoch, und auch die Kräfte des Mannes reichten nicht aus, um sie regelrecht hinaufzuheben. Irgendwie aneinander Halt suchend, kämpften sich die beiden Stück für Stück hoch. Der Seitenspiegel eines heranrasenden und laut hupenden Busses glitt nur wenige Zentimeter über den grauen Kopf des Mannes hinweg.
»Meine Tochter ist in Norwegen«, sagte Jaatinen unvermittelt. »Sie ist dort, seitdem Irina, ihre Mutter und meine Frau, vor vier Jahren gestorben ist. Sie wurde von einem Geländewagen überfahren, als sie mit dem Rad zur Arbeit unterwegs war. Der Fahrer war vollgedröhnt mit Drogen.«
Ich musterte ihn von der Seite.
Er beobachtete weiterhin das alte Paar. »Er bekam anderthalb Jahre auf Bewährung, ich das alleinige Sorgerecht. Was natürlich nicht funktionierte, weil ich die ganze Zeit arbeiten war, und das musste ich ja auch, denn die Schule und die Tagesbetreuung kosten nun mal Geld. Als die Pateneltern meiner Tochter vorschlugen, sie zu sich nach Norwegen zu holen, willigte ich ein. Ich weiß nicht, ob ich richtig gehandelt habe. Und ich weiß auch nicht, was ich sonst hätte tun sollen. Solange ich was verdiene, kann ich ihr Leben dort finanzieren.«
Rechts von uns prangten die Hotelgebäude, die Fahnen vor den Eingängen wehten im kühlen Morgenwind. Die Hotels waren voll. Ausgerechnet sie profitierten davon, dass die Leute in Südeuropa ihr Zuhause verloren hatten.
Ich wusste nicht, was ich zu Jaatinen sagen sollte. Und es spielte auch keine Rolle, denn er fuhr mit seiner Geschichte fort, ohne einen Kommentar abzuwarten.
»Um meine Tochter nach Norwegen schicken zu können, musste ich unser kleines Eigenheim in Korso verkaufen. Ich kann von Glück reden, dass ich es überhaupt losgeworden bin. Eine junge Familie hat es gekauft, als eine Art Sicherheit. Sie haben mir die Hälfte dessen gegeben, was ich mal dafür bezahlt hatte. Aber aus irgendeinem Grund sind mir meine Schulden egal.«
»Wo wohnst du jetzt?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen.
»In Pasila.«
»Kurzer Weg zur Arbeit«, sagte ich.
»Vom Keller in die vierte Etage.« Jaatinen lächelte erneut, aber seine Augen waren nicht beteiligt.
Wir kamen am Reichstagsgebäude vorbei, das mit einem Schutzzaun umgeben war, der rund um die Uhr von hellen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Das Licht wirkte an dem metallicgrauen Tag flirrend.
»Ich habe übrigens ernst gemeint, was ich zu dir gesagt habe«, meinte Jaatinen.
»Was genau?«, fragte ich.
»Dass ich weitermache, weil ich Polizist bin. Ich bin kein übergelaufener