Der Heiler - By Tuomainen, Antti Page 0,11

auf dem Bürgersteig. Wenige Sekunden später saß ich fest und sicher auf der Rückbank und bat den Fahrer, diesmal in südliche Richtung zu fahren.

Er hatte einen Namen und eine Geschichte: Hamid. Seit sechs Monaten in Finnland. Warum er auf mich gewartet hatte? Weil ich die Tour bezahlt hatte. Ich fand an dem jungen Mann nichts auszusetzen. Niemand wollte umsonst arbeiten.

Hamid gefiel es in Finnland. Hier gab es immerhin noch gewisse Möglichkeiten klarzukommen, hier hätte auch er eventuell noch die Chance, eine Familie zu gründen.

Ich lauschte seinem Englisch und musterte ihn von der Seite. Ein schmales, hellbraunes Gesicht, lebendige nussbraune Augen im Rückspiegel und rasche Hände am Lenkrad. Dann betrachtete ich die vorbeigleitende Stadt, die überfluteten, von Wasser glänzenden Straßen, Pfützen in Teichgröße, zerbrochene, zersplitterte Fenster, aus den Angeln gerissene Türen, schwarz verkohlte Autos und durch den Regen trottende Menschen. Da, wo ich den Untergang sah, war für Hamid Hoffnung.

Wir kamen ans Ende der Lönnrotinkatu, überquerten die Kreuzung und nahmen Kurs auf Jätkäsaari.

Hamid fuhr jetzt langsamer, er redete nicht mehr und hatte dafür seine Musik lauter gedreht. Was da aus den Lautsprechern dröhnte und wummerte, war irgendeine Mischung aus Gangsta-Rap und nordafrikanischen Rhythmen. Überlagert war das Ganze von einer hämmernden Männerstimme, die in einer unbekannten Sprache tausend Worte in der Minute ausstieß.

Als Hamid wissen wollte, wohin er fahren sollte, sagte ich: »Geradeaus.« Etwas anderes fiel mir nicht ein. Ich sah mir auf dem Handy wieder Johannas Texte an, blätterte in ihren Notizen. Ich öffnete die Datei des aufgezeichneten Telefonats und bat Hamid, mein Handy mit den Lautsprechern im Auto zu verbinden. Das kostet extra, sagte er. Ich nickte. Er wünschte Vorkasse. Ich reichte ihm mein Handy und einen Geldschein. Er lächelte breit, faltete den Schein zusammen, steckte ihn in die Tasche und schloss mein Handy an die Lautsprecher an.

Der Tausend-Worte-in-der-Minute-Mann verstummte, stattdessen ertönte Rauschen.

Hamid sah mich fragend an und versuchte offenbar, sich ein neues Bild von mir zu machen.

Ich nickte wieder: Genau das wollte ich hören.

Wir kamen ans Ende der Straße, rechts vor uns befand sich der Stadtteil Lauttasaari, links vor uns war Dunkelheit und hinter uns standen Wohnblöcke. Hamid wollte wissen, wohin er nun fahren sollte. Ich zeigte auf das geschlossene Strandcafé und den Parkplatz dahinter.

Das Strandcafé war innen dunkel und außen beleuchtet. Seine großen, rechteckigen Fenster waren nicht zerschlagen und auffällig sauber, vor dem Haus lag kaum Müll. Es war, als wären wir innerhalb einer Viertelstunde in eine andere Welt gereist.

»Der Platz ist okay«, sagte ich zu Hamid, »mach den Motor aus, lass uns zuhören.« Gleichzeitig steckte ich ihm einen neuen Geldschein zu.

Er tat wie gewünscht und ließ das Rauschen durchs Auto fluten, ehe es sich im Dunkeln auflöste. Ich öffnete das Fenster und bat ihn, langsam die Lautstärke herunterzudrehen.

Ein Rauschen verhallte, ein anderes ersetzte es.

Wahrscheinlich.

Nur wahrscheinlich?

Sehr wahrscheinlich?

Vielleicht war dies der Ort, von dem aus Johanna mit mir telefoniert hatte.

Ich beauftragte Hamid zu warten, nahm mein Handy und stieg aus. Der Wind kam vom Meer und fuhr sofort in meine Haare und meine Kleidung. Er riss und zerrte, wie um richtig zupacken zu können. Hier direkt am Ufer wäre er auch ohne Regen feucht gewesen.

Ich stülpte mir die Kapuze über, drückte das Handy ans Ohr, so dass es vor dem Regen geschützt war, und ließ das Rauschen weiterlaufen, stellte es lauter und leiser, während ich am Ufer in nördliche Richtung ging und mir dabei die sechs-, sieben- und achtgeschossigen Häuser ansah. Ich versuchte, Gemeinsamkeiten zwischen Dingen zu sehen und zu hören, die womöglich gar nichts miteinander zu tun hatten: das letzte Telefonat mit ihr, Wellen oder Wind als Geräuschkulisse, die Koordinaten des Heilers, mein Instinkt und meine Hoffnungen. All das beschäftigte mich, während ich mit nassen Schuhen und eiskalten Füßen auf der windigen und verregneten Landzunge umherlief und nicht wusste, wo ich beginnen sollte.

Die Häuser am Ufer schienen in ungewöhnlich gutem Zustand zu sein: In den meisten Wohnungen brannte Licht, ein kleines Wunder, mindestens aus zwei Gründen. Wir lebten nahe am Meer, und das bedeutete Überschwemmungen. Wir befanden uns außerdem in einem wohlhabenden Stadtteil. Das hätte eigentlich dazu führen müssen, dass die Mehrzahl der Bewohner nach Norden gezogen war, solange noch Gutwetter herrschte. Was immer das heutzutage heißen mochte.

An einem großen Stein, der an einer Seite glatt behauen war, führten stählerne Stufen nach oben. Ich stieg hinauf und kam auf eine kleine Plattform, die mit einem Stahlgeländer umgeben war. Auf der Seeseite gab es ein fest installiertes Fernrohr. An sonnigen Tagen konnte man damit wahrscheinlich weit hinausblicken. Jetzt sah ich gar nichts.

Ich drehte mich um. Das Strandcafé war zweihundert

readonlinefreenovel.com Copyright 2016 - 2024