Aschenpummel (German Edition) - By Miedler, Nora Page 0,24
eine … eine ganz alte Ausgabe von Jane Eyre und ich wollte sie kaufen, aber … naja, mein Schwächeanfall …«
»Ja.« Er nickte. Und dann, als würde ihm plötzlich etwas einfallen, fragte er: »Und wie geht es Ihnen heute?«
»Guuuut«, log ich. »Sehr, sehr gut.« Mit dem Zeigefinger deutete ich auf die andere Straßenseite. »Ich war was trinken, mit ein paar Freunden, da im, äh … Einrahmen. Nettes Lokal, Long Island Ice Tea und so …«
»Ich bin auch manchmal dort«, sagte er. »Aber bis jetzt war ich immer alleine da.«
Mein Herz sackte ab, rutschte durch meinen Bauch, mein Becken, dann teilte es sich und landete in zwei Hälften in meinen Füßen. Er war einsam. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Es war wie eine Offenbarung. Es war, als hätte Gott die Liebe nur aus diesem einzigen Grund geschaffen. Für den Piraten und mich.
Der Pirat räusperte sich. »Mit meinen Freunden treffe ich mich immer innerstädtisch.«
»Mmhm«, antwortete ich und fragte mich, ob sich mein Herz wohl jemals wieder zusammensetzen ließ.
»Wegen Jane Eyre –«, sagte er plötzlich, »wenn Sie es gleich haben möchten, dann können wir jetzt ins Geschäft fahren.«
Es gab zwei Männer, mit denen ich bisher einen Samstagabend verbracht hatte. Der eine war der Trafikant vom Franz-Josefs-Bahnhof gewesen und der andere mein Englischlehrer in der sechsten Klasse. Ersterer hatte mich nach getaner Kussarbeit angewiesen, für ihn ein Päckchen aus dem Cleopatra ein paar Gassen weiter zu holen. Ich ging alleine hin, es war ein kalter Februarabend und mein Mund fühlte sich vollkommen anders an als sonst. Zum ersten Mal schmeckte ich einen zweiten Menschen, und auch, wenn der Trafikant nicht genau meiner Vorstellung vom Traummann entsprach, so war ich doch einundzwanzig und endlich, endlich geküsst worden. Das Cleopatra war menschenleer; es waren Katzen, die anscheinend die Herrschaft dort übernommen hatten. Auf jeder Bank, auf jedem Stuhl lag eine Katze. Und die größte von ihnen, eine getigerte, lag sogar auf dem Tisch.
»Grüß Gott?«, fragte ich vorsichtig. Doch nicht mal ein Miauen bekam ich als Antwort. Ich räusperte mich, räusperte mir Mut zu, dann wiederholte ich, diesmal lauter: »Grüß Gott?«
»Wer bist du?«
Ich fuhr herum, sah niemanden, nur noch mehr Katzen. »Ich … ich bin die Teddy, ich komme vom … Trafikant –«
»Nimm’s dir, liegt hier auf der Theke. Sag ihm, das nächste Mal will ich Bares sehen.«
»Sag ich ihm«, flüsterte ich, griff nach einem kleinen weißen Päckchen auf der Theke und stolperte im Hinausrennen über zwei Katzen.
Die Ware lieferte ich brav ab, mein Kusspartner jedoch würdigte mich keines Blickes. Ich versuchte, ihm die Geschichte mit den Katzen witzig zu verkaufen, ich wollte doch, dass er mich mochte, dachte, dass er mein fester Freund sein würde, doch er hatte nur Augen für das Päckchen, und als ich das nächste Mal Briefmarken bei ihm kaufte, tat er so, als würde er mich zum ersten Mal sehen.
Den Englischlehrer hatte ich, als ich sechzehn war. Er sah aus wie Morten Harket von Aha, und ich schmuste jede Nacht mein Kopfkissen ab und stellte mir vor, es wäre er.
Als ich achtzehn war, schon längst die Schule geschmissen hatte und bei Hans im Schuh-Bi arbeitete, erwischte ich Englisch-Morten mit Tissi in ihrem Zimmer. Und so traurig ich darüber auch war, ein wenig fühlte ich mich doch geschmeichelt, schließlich hatten Tissi und ich dieselben Eltern, war es da nicht fast so, als hätte Englisch-Morten auch ein bisschen mich geküsst? Danach aßen wir zu dritt eine Schinkenkäsepizza, es war ein Samstagabend und ich verbrachte bestimmt eine volle Stunde in seiner Gesellschaft.
Zwei Samstagabende, zwei Männer. Doch U-Bahn gefahren war ich mit keinem von beiden.
Die U-Bahnstation Karlsplatz besitzt eine Besonderheit. Sie stinkt nach Kotze. Und zwar immer. Normalerweise ist mir das egal, aber in dieser Nacht mit dem Piraten war es mir schrecklich unangenehm. Noch dazu, wo ich mich keine zwanzig Minuten zuvor selbst übergeben hatte. Ich bildete mir plötzlich ein, dass es heute schlimmer war als sonst, und fürchtete, dass der Pirat meinen könnte, der Gestank käme von mir.
Also sagte ich: »Puh, hier riecht es auch immer …« Nicht mal das Wort »stinken« konnte ich vor ihm in den Mund nehmen.
»Buttersäure«, sagte der Pirat, während er weiter geradeaus starrte.
»Buttersäure«, wiederholte ich. Dieses Gespräch quoll nicht gerade über vor Romantik.
Die U-Bahn kam, und wir setzten uns gegenüber voneinander auf einen Vierersitz. Bei jedem Rumpeln, das die U-Bahn machte, wackelten wir im Gleichtakt hin und her. Es war einerseits betörend, so im Einklang miteinander zu sein, andererseits war es seltsam, den Piraten von so etwas Gewöhnlichem wie einer U-Bahn beeinflusst zu sehen. Fast, als wäre er ein