Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,9

Kunden fährt er fort: »Solche Ziele vervielfältigen sich. Jedes Mal, wenn ein Ziel erreicht ist, brüten sie nur weitere Bedürfnisse aus. Folglich noch mehr Hasten, noch mehr Suchen, ad infinitum. Der wahre Weg zu unvergänglichem Glück muss anderswo liegen. Darüber denke ich nach, und darüber schreibe ich.« Bento läuft puterrot an. Nie zuvor hat er solche Gedanken laut ausgesprochen.

Das Gesicht des Kunden verrät großes Interesse. Er stellt seine Einkaufstasche ab, tritt näher und starrt Bento ins Gesicht.

Das war der Moment – der Moment der Momente. Bento liebte jenen Moment, jenen überraschten Blick, jenes neue, wachsende Interesse und jene Wertschätzung im Gesicht des Fremden. Und was für ein Fremder er war! Ein Sendbote aus der großen Welt da draußen, aus der nichtjüdischen Welt. Ein offensichtlich einflussreicher Mann. Es war ihm unmöglich, sich jenen Moment nur ein einziges Mal in Erinnerung zu rufen. Vielmehr spielte er diese Begebenheit ein weiteres Mal und manchmal auch ein drittes und viertes Mal durch. Und jedes Mal, wenn er sie sich vor Augen führte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Ein Lehrer, ein eleganter Mann von Welt, interessierte sich für ihn, nahm ihn ernst, dachte vielleicht: »Das ist ja ein außergewöhnlicher junger Mann.«

Nur mit Mühe riss Bento sich von diesem Moment der Momente los und fuhr mit seiner Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen fort.

Der Kunde lässt nicht locker: »Sie sagen, dass unvergängliches Glück woanders liege. Erzählen Sie mir von diesem ›woanders‹.«

»Ich weiß nur, dass es nicht in vergänglichen Zielen liegt. Es ist die Seele, die bestimmt, was angstvoll, wertlos, wünschenswert oder unschätzbar ist, und deshalb ist es die Seele und nur die Seele, die einer Veränderung bedarf.«

»Wie heißen Sie, junger Mann?«

»Bento Spinoza. Auf Hebräisch werde ich Baruch genannt.«

»Und auf Lateinisch ist Ihr Name Benedictus. Ein schöner, gesegneter Name. Ich bin Franciscus van den Enden. Ich leite eine Lateinschule. Spinoza, sagen Sie … hmm, vom lateinischen spina und spinosus, was so viel wie ›Dorn‹ und ›voller Dornen‹ bedeutet.«

»D’Espinosa auf Portugiesisch«, sagt Bento und nickt. »›Von einem dornigen Ort.‹«

»Nun, die Art Ihrer Fragen dürfte sich für die orthodoxen, doktrinären Lehrmeister durchaus als dornig erweisen.« Van den Enden kräuselt die Lippen zu einem verschmitzten Lächeln. »Sagen Sie mir, junger Mann, sind Sie ein Stachel im Fleische Ihrer Lehrer?«

Bento lächelt ebenfalls: »Ja, früher einmal war das so. Doch nun habe ich mich von meinen Lehrern befreit. Ich beschränke meine Stacheligkeit auf mein Kassenbuch. Meine Art von Fragen ist in einer abergläubischen Gemeinde nicht willkommen.«

»Aberglaube und Vernunft waren noch nie gute Gefährten. Aber vielleicht kann ich Sie mit ähnlich gesinnten Weggefährten bekannt machen. Hier zum Beispiel ist ein Mann, den Sie kennen lernen sollten.«

Van den Enden greift in seine Tasche und zieht ein altes Buch heraus, das er Bento reicht. »Der Mann heißt Aristoteles, und dieses Buch enthält seine Erkundung Ihrer Art von Fragen. Auch er betrachtete die Seele und das Streben nach einer Vervollkommnung unserer Kräfte der Vernunft als oberstes und einzigartiges menschliches Vorhaben. Mit der Nikomachischen Ethik von Aristoteles sollten Sie sich als Nächstes befassen.«

Bento hält das Buch an seine Nase und atmet den Duft ein. Dann schlägt er es auf. »Ich weiß von diesem Mann und würde ihn gern kennen lernen. Aber wir könnten uns leider nicht unterhalten. Ich kann kein Griechisch.«

»Dann sollte Ihre Ausbildung auch Griechisch umfassen. Natürlich erst, nachdem Sie Latein beherrschen. Wie schade, dass Ihre gelehrten Rabbiner so wenig über die Klassiker wissen. So eng begrenzt ist ihr Horizont, dass sie oft vergessen, dass Nichtjuden sich ebenfalls mit der Suche nach Weisheit beschäftigen.«

Bento antwortet augenblicklich. Wie immer erinnert er sich seiner jüdischen Herkunft, wenn Juden angegriffen werden. »Das stimmt nicht. Rabbi Menassch und auch Rabbi Mortera haben Aristoteles in der lateinischen Übersetzung gelesen. Und Maimonides hielt Aristoteles für den bedeutendsten aller Philosophen.«

Van den Enden streckt sich. »Gut gesagt, junger Mann, gut gesagt. Mit dieser Antwort haben Sie die Aufnahmeprüfung bestanden. Eine solche Loyalität gegenüber alten Lehrern veranlasst mich, Sie formell zum Studium an meiner Schule einzuladen. Es ist nun an der Zeit, dass Sie nicht nur von Aristoteles wissen, sondern ihn auch selbst kennen lernen. Ich kann ihn Ihrem Verständnis zuführen und auch die Welt seiner Gefährten, wie Sokrates, Platon und viele andere.«

»Bleibt nur die Frage der Studiengebühren. Wie ich sagte, laufen die Geschäfte schlecht.«

»Wir werden uns bestimmt einigen. Zum einen werden wir sehen, was für eine Art Hebräischlehrer Sie sind. Meine Tochter und ich möchten unser Hebräisch verbessern. Und vielleicht entdecken wir ja auch andere Möglichkeiten von Tauschgeschäften. Für den Augenblick schlage ich vor, dass Sie zu meinem Wein und den Rosinen – aber

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