Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,8

Die Einzelheiten hafteten vollkommen klar in seinem Gedächtnis.

Am Vorabend des Sabbat setzt bereits die Dämmerung ein, als ein würdevoller, formell gekleideter Mann mittleren Alters in vornehmer Haltung sein Handelsgeschäft betritt, um die Waren zu begutachten. Bento ist zu sehr mit seinen Eintragungen in seinem Kassenbuch beschäftigt, um die Ankunft seines Kunden zu bemerken. Schließlich hüstelt van den Enden höflich, um auf sich aufmerksam zu machen, und bemerkt dann energisch, aber nicht unfreundlich: »Junger Mann, wir sind doch nicht zu beschäftigt, um einen Kunden zu bedienen, wie?«

Bento lässt seinen Stift mitten im Wort fallen und springt auf. »Zu beschäftigt? Wohl kaum, mein Herr. Sie sind heute mein allererster Kunde. Bitte entschuldigen Sie meine Unaufmerksamkeit. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich hätte gern einen Liter Wein und – abhängig vom Preis – vielleicht ein Kilogramm dieser verhutzelten Rosinen da in der unteren Kiste.«

Während Bento ein Bleigewicht auf die eine Schale der Waage legt und die Rosinen mit einer abgenutzten, hölzernen Kelle auf die andere schaufelt, bis beide Schalen im Gleichgewicht schweben, fügt van den Enden hinzu: »Aber ich habe Sie beim Schreiben gestört. Was für ein erfrischendes und ungewöhnliches – nein, mehr als ungewöhnliches, ja geradezu einzigartiges – Erlebnis, in ein Geschäft zu treten und auf einen jungen Angestellten zu stoßen, der so mit Schreiben beschäftigt ist, dass er nicht einmal einen Kunden bemerkt. Als Lehrer erlebe ich normalerweise genau das Gegenteil. Ich stoße auf Schüler, die nicht schreiben und nicht denken, obwohl sie es tun sollten.«

»Die Geschäfte laufen schlecht«, antwortet Bento. »Und so sitze ich Stunde um Stunde hier und habe nichts zu tun außer zu denken und zu schreiben.«

Der Kunde deutet auf Spinozas Kassenbuch, das immer noch auf der Seite aufgeschlagen ist, die er gerade beschrieben hat. »Lassen Sie mich eine Vermutung darüber wagen, was Sie da aufschreiben. Die Geschäfte laufen schlecht, und so machen Sie sich zweifellos Sorgen über das Schicksal Ihres Inventars. Sie vermerken in Ihrem Kassenbuch die Ausgaben und Einnahmen, stellen ein Budget auf und listen mögliche Lösungen. Richtig?«

Mit rotem Kopf dreht Bento sein Journal um und legt es mit dem Rücken nach oben auf den Tisch.

»Sie brauchen nichts vor mir zu verbergen, junger Mann. Ich bin ein Meisterspion und kann Geheimnisse für mich behalten. Und auch ich denke verbotene Gedanken. Darüber hinaus bin ich Lehrer für Rhetorik von Beruf und könnte Ihre Niederschriften mit ziemlicher Sicherheit verbessern.«

Spinoza hält ihm sein Journal zum Lesen hin und fragt verschmitzt lächelnd: »Wie gut ist Ihr Portugiesisch, mein Herr?«

»Portugiesisch! Jetzt haben Sie mich aber erwischt, junger Mann. Holländisch ja, Französisch, Englisch, Deutsch ebenfalls ja und auch Latein und Griechisch. Ein eingeschränktes Ja sogar bei Spanisch und ansatzweise auch bei Hebräisch und Aramäisch. Aber Portugiesisch leider nein. Sie sprechen übrigens ausgezeichnet Holländisch. Warum schreiben Sie nicht auf Holländisch? Sie sind doch bestimmt hier geboren?«

»Ja. Mein Vater emigrierte als Kind aus Portugal. Obwohl ich bei meinen geschäftlichen Verhandlungen Holländisch spreche, bin ich im Schriftlichen nicht perfekt. Manchmal schreibe ich auch auf Spanisch. Und ich vertiefe mich gerade ins Studium der hebräischen Sprache.«

»Seit jeher sehne ich mich danach, die Heilige Schrift einmal in ihrer Originalsprache zu lesen. Leider war mein Hebräischunterricht bei den Jesuiten nur sehr unzulänglich. Aber Sie schulden mir noch immer eine Antwort darauf, was Sie da schreiben.«

»Ihre Folgerung, dass ich über Budgets und eine Verbesserung der Verkaufszahlen schreibe, basiert, wie ich annehme, auf meiner Bemerkung, dass die Geschäfte schlecht gehen. Eine verständliche Deduktion, aber in diesem speziellen Fall vollkommen unrichtig. Meine Gedanken beschäftigen sich nur selten mit geschäftlichen Dingen, und ich schreibe niemals darüber.«

»Ich nehme alles zurück. Aber bevor ich den Fokus Ihres Schreibens weiter verfolge, erlauben Sie mir bitte, kurz abzuschweifen – eine pädagogische Anmerkung, eine Angewohnheit, die ich nur schwer ablegen kann: Ihr Gebrauch des Wortes ›Deduktion‹ ist korrekt. Der Vorgang, auf bestimmten Beobachtungen aufzubauen, um eine rationale Schlussfolgerung zu ziehen, mit anderen Worten, aus bestimmten Beobachtungen von unten her eine Theorie aufzubauen, heißt Induktion, wohingegen eine Deduktion mit einer a-priori-Theorie beginnt und dann abwärts zu verschiedenen Schlussfolgerungen führt.«

Als van den Enden Spinozas nachdenkliches, vielleicht auch dankbares Nicken registriert, fährt er fort: »Wenn es nicht die Geschäfte sind, worüber schreiben Sie dann?«

»Ach, nur darüber, was ich vor dem Fenster meines Ladens sehe.«

Van den Enden dreht sich um und folgt Bentos Blick zur Straße hinaus.

»Sehen Sie. Alle sind in Bewegung. Sie hasten hin und her. Den ganzen Tag, ihr ganzes Leben lang. Mit welchem Ziel? Reichtum? Ehre? Sinnenlust? Solche Ziele weisen ganz sicher in die falsche Richtung.«

»Warum?«

Bento hat alles gesagt, was er sagen wollte, doch ermutigt von den Fragen seines

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