Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,62

Sicherheit und dem Wohl der Bürger handelt.«

»Baruch, es ist dir gelungen, mich davon zu überzeugen, dass du ein einsames Leben führen wirst und dass deine Zukunft nicht nur von Gotteslästerung, sondern auch von Verrat gekennzeichnet sein wird. Geh mir aus den Augen.«

Während er Baruchs Schritten nachhorchte, die sich auf der Treppe entfernten, hob Rabbi Mortera den Blick zum Himmel und murmelte: »Michael, mein Freund, ich habe für deinen Sohn getan, was ich konnte. Ich habe zu viele andere Seelen, die ich schützen muss.«

16

MÜNCHEN, 1919

Stellen Sie sich diese Szene vor: Ein schäbig gekleideter, arbeitsloser, jugendlicher Immigrant, der noch nichts veröffentlicht hat, den Löffel für die Suppenküche in der Brusttasche seines Hemdes, stürmt in das Büro eines bekannten Journalisten, Dichters und Politikers und platzt heraus: »Können Sie einen Streiter gegen Jerusalem gebrauchen?«

Der Beginn eines Bewerbungsgespräches, das bestimmt unter keinem guten Stern steht! Jeder verantwortungsvolle, wohlerzogene, kultivierte Chefredakteur würde den Eindringling schnell als kindisch, bizarr und vielleicht sogar gefährlich einstufen und vor die Tür setzen. Aber nein – wir schreiben das Jahr 1919, der Ort war München, und Dietrich Eckart war von den schönen Worten des Jugendlichen beeindruckt.

»Nun, junger Krieger, dann zeigen Sie mir Ihre Waffen.«

»Mein Geist ist mein Bogen, und meine Worte sind …« Er holte seinen Stift aus der Tasche, fuchtelte damit über seinem Kopf herum und rief aus: »Meine Worte sind meine Pfeile!«

»Gut gesagt, junger Krieger. Und nun erzählen Sie mir von Ihren Heldentaten, von Ihren Attacken auf Jerusalem.«

Alfred bebte vor Aufregung, als er seine Anti-Jerusalem-Attacken aufzählte: das fast auswendig gelernte Buch Houston Stewart Chamberlains, seine antisemitische Wahlrede als Siebzehnjähriger, seine Konfrontation mit dem Direktor und vermuteten Juden Epstein (allerdings verzichtete er darauf, Spinoza zu erwähnen), seine Ekelgefühle beim Anblick der jüdisch-bolschewistischen Revolution, seine neueste mitreißende antijüdische Rede auf der Bürgerversammlung in Reval, sein Vorhaben, einen Augenzeugenbericht über die revoltierenden jüdischen Bolschewisten zu schreiben, seine Geschichtsforschung über die drohende Gefahr durch jüdisches Blut.

»Ein ausgezeichneter Anfang. Aber nur ein Anfang. Nun müssen wir das Kaliber Ihrer Waffen inspizieren. Liefern Sie mir in vierundzwanzig Stunden tausend Wörter Ihres Augenzeugenberichts über die bolschewistische Revolution. Dann werden wir sehen, ob der Artikel eine Veröffentlichung verdient hat.«

Alfred machte keine Anstalten zu gehen. Er sah Dietrich Eckart an, einen imposanten Mann mit rasiertem Schädel, blauen Augen hinter einer dunkel gerahmten Brille, kurzer, fleischiger Nase und breitem, ziemlich brutalem Kinn.

»Vierundzwanzig Stunden, junger Mann. Höchste Zeit loszulegen.«

Alfred sah sich um; ganz offensichtlich widerstrebte es ihm, Eckarts Büro zu verlassen. Dann ein schüchternes: »Gibt es hier vielleicht einen Schreibtisch, eine ruhige Ecke und ein wenig Schreibpapier, das ich bekommen könnte? Ich habe nur die Bücherei, die momentan mit ungebildeten Flüchtlingen überfüllt ist, die eine warme Stube suchen.«

Dietrich Eckart gab seinem Sekretär ein Zeichen: »Führen Sie diesen Bewerber ins hintere Büro. Und geben Sie ihm Papier und einen Schlüssel.« Zu Alfred sagte er: »Es ist schlecht beheizt, aber ruhig und hat einen separaten Eingang. Sie können also notfalls die Nacht durcharbeiten. Auf Wiedersehen bis morgen früh um genau dieselbe Zeit.«

Dietrich Eckart pflanzte die Füße auf seinen Schreibtisch, klopfte seine Zigarre im Aschenbecher aus und lehnte sich zu einem kleinen Nickerchen in seinem Stuhl zurück. Obwohl erst Anfang fünfzig, zeugten schwabbelige Fleischmassen von einem nachlässigen Umgang mit seinem Körper. Als Sohn eines Rechtsanwalts und königlichen Notars in eine wohlhabende Familie hineingeboren, hatte er seine Mutter schon als Kind verloren und seinen Vater ein paar Jahre später. In seinen späten Teenagerjahren driftete er in ein Leben als Bohémien, verfiel den Drogen, und das Vermögen, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, löste sich bald in Luft auf. Nach einer Reihe von Fehlstarts als Künstler, als Mitglied radikaler politischer Bewegungen und einem Jahr als Medizinstudent glitt er in eine schwere Morphiumsucht ab, die eine mehrmonatige Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik erforderte. Danach versuchte er sich als Dramatiker, doch keines seiner Werke schaffte es jemals auf die Bühne. Von seinen literarischen Fähigkeiten überzeugt, schob er die Schuld für sein Versagen den Juden zu, die, wie er glaubte, die deutschen Bühnen kontrollierten und sich von seinen politischen Ansichten angegriffen fühlten. Seinen Rachegelüsten entsprang schließlich eine Karriere als professioneller Antisemit: Als Journalist wiedergeboren, gründete er die Zeitschrift Auf gut Deutsch als letzte einer Reihe von Publikationen mit dem Ziel, gegen die Macht der Juden anzukämpfen. Das Jahr 1919 war glückverheißend, sein journalistischer Stil fesselnd, und bald wurde seine Zeitung Pflichtlektüre für diejenigen, die mehr über ruchlose jüdische Machenschaften erfahren wollten.

Obgleich es um Dietrichs Gesundheit schlecht bestellt war und es ihm an Energie mangelte, verspürte er eine unbändige Sehnsucht nach einem Wechsel. Gierig wartete er auf das Kommen

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