Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,61

wurde.«

»Sie waren mein Lehrer für Hebräisch, und Sie haben mich gut unterrichtet. Erlauben Sie mir, mich dadurch erkenntlich zu zeigen, dass ich den Cherem für Sie zusammenstelle. Sie zeigten mir einmal einige der brutalsten Cherems, die von der venezianischen Gemeinde verhängt wurden, und ich kann mich noch an jedes einzelne Wort erinnern.«

»Ich sagte vorhin, dass für deine Unverschämtheiten später noch Zeit genug sein wird. Jetzt stelle ich fest, dass es schon so weit ist.« Rabbi Mortera hielt inne, um sich zu sammeln. »Du willst mich töten. Du willst mein Werk vollkommen zerstören. Du weißt, dass mein Lebenswerk die zentrale Rolle eines Lebens nach dem Tode im jüdischen Gedanken und der jüdischen Kultur umfasst. Du kennst mein Buch She’erut Ha-Nefesh, das ich dir anlässlich deiner Bar Mitzwa überreicht habe. Du kennst meine große Debatte mit Rabbi Aboab über dieses Thema und dass ich den Sieg errungen habe?«

»Ja, natürlich.«

»Du tust das einfach so ab. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was dabei auf dem Spiel stand? Wenn ich diese Debatte verloren hätte, wenn verfügt worden wäre, dass alle Juden einen gleichen Status im Jenseits hätten und dass Tugend unbelohnt bliebe und Übertretungen keine Strafe nach sich zögen: Kannst du denn die Auswirkungen auf die Gemeinde nicht vorhersehen? Wenn ihnen ein Platz im Jenseits zugesichert würde, was wäre dann wohl ihr Anreiz, wieder zum Judentum zu konvertieren? Wenn es keine Strafen für Verfehlungen gäbe, kannst du dir vorstellen, was die holländischen Calvinisten dann von uns denken würden? Wie lange würde unsere Freiheit wohl noch dauern? Glaubst du, das war ein Spiel für mich? Denk an die Folgen.«

»Ja, diese bedeutende Debatte – Ihre Worte haben mir gerade bewiesen, dass es in dieser Debatte nicht um spirituelle Wahrheit ging. Zweifellos war das venezianische Rabbinat darüber bestürzt. Sie beide haben sich über unterschiedliche Arten des Lebens nach dem Tod gestritten, und zwar aus Gründen, die nichts mit der Realität eines Jenseits zu tun hatten. Sie versuchen, das gemeine Volk mittels Angst und Hoffnung – den traditionellen Keulen der religiösen Führer aller geschichtlicher Epochen – unter Kontrolle zu halten. Sie behaupten wie alle rabbinischen Autoritäten weltweit, den Schlüssel zum Leben nach dem Tod in Händen zu halten, und Sie benutzen diesen Schlüssel, um politische Kontrolle zu erlangen. Andererseits vertrat Rabbi Aboab seinen Standpunkt, um sich der Seelenqualen seiner Kongregation anzunehmen, welche ihren Converso-Familien Hilfe anbieten wollte. Das war keine spirituelle Meinungsverschiedenheit. Es war eine politische Debatte, die in der Verkleidung einer religiösen daherkam. Weder Sie noch er führten irgendeinen Beweis für die Existenz eines Lebens nach dem Tode an, weder einen auf Vernunft gegründeten Beweis noch einen Beweis aufgrund der Worte in der Thora. Ich kann Ihnen versichern, dass der Beweis in der Thora nicht zu finden ist, und das wissen Sie.«

»Du hast offensichtlich nicht wahrgenommen, was ich dir über meine Verantwortung gegenüber Gott und dem Fortbestehen unseres Volkes gesagt habe«, erwiderte Rabbi Mortera.

»Vieles von dem, was religiöse Führer machen, hat wenig mit Gott zu tun«, antwortete Bento. »Im vergangenen Jahr verhängten Sie einen Cherem gegen einen Mann, der es vorgezogen hatte, sein Fleisch bei einem Aschkenaser Metzger statt bei einem sephardischen Metzger zu kaufen. Glauben Sie, dass das für Gott relevant ist?«

»Es war ein kleiner Cherem und ausgesprochen lehrreich für die Bedeutung des Zusammenhalts in der Gemeinde.«

»Und vergangenen Monat erfuhr ich, dass Sie eine Frau aus einem kleinen Dorf, in dem es keinen jüdischen Bäcker gab, anwiesen, sie dürfe ihr Brot nur dann bei einem nichtjüdischen Bäcker kaufen, wenn sie ein Stück Holz in seinen Ofen würfe und so am Backen des Brotes beteiligt wäre.«

»Als die Frau mich aufsuchte, war sie völlig durcheinander, und sie verließ mich erleichtert und glücklich.«

»Diese Frau verließ Sie noch verwirrter, als sie vorher war, noch unfähiger, für sich selbst zu denken und ihre rationalen Fähigkeiten zu entwickeln. Genau darum geht es mir: Religiöse Autoritäten aller Schattierungen trachten danach, die Entwicklung unserer rationalen Fähigkeiten zu verhindern.«

»Wenn du glaubst, dass unser Volk ohne Kontrolle und ohne Autoritäten überleben kann, bist du ein Narr.«

»Ich glaube, dass religiöse Führer ihre spirituelle Orientierung verlieren, wenn sie sich in Angelegenheiten des politischen Staates mischen. Ihre Autorität oder ihre Beratung sollte sich darauf beschränken, Ratschläge zur persönlichen Frömmigkeit zu erteilen.«

»Die Angelegenheiten des politischen Staates? Hast du nicht begriffen, was in Spanien und Portugal geschehen ist?«

»Genau darauf will ich hinaus: Das waren religiöse Staaten. Religion und Staatlichkeit müssen getrennt sein. Der denkbar beste Herrscher wäre ein frei gewählter Führer, der von einer unabhängig gewählten Ratsversammlung in seiner Macht beschränkt wird und der in Übereinstimmung mit dem öffentlichen Frieden, der

readonlinefreenovel.com Copyright 2016 - 2024