Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,42

»Jeder Gott hat inbrünstige und erbitterte Gläubige.«

»Meine Herren, meine Herren«, intervenierte van den Enden, »lassen Sie uns diese Diskussion verschieben, bis wir die Texte gelesen haben und beherrschen. Aber Ihnen, Edward, möchte ich sagen, dass Epikur die Götter durchaus nicht auf die leichte Schulter nahm: Er baute sie in seine Definition der ataraxia ein und mahnte uns, die Götter in unseren Herzen zu behalten, ihnen nachzueifern und sie als Vorbild für ein Leben in seliger Gelassenheit zu nehmen. Und darüber hinaus legte er seinen Jüngern ans Herz« – und hier warf van den Enden einen kurzen Blick in Bentos Richtung –, »sich zur Vermeidung von Unstimmigkeiten unbeschwert an allen Aktivitäten der Gemeinde und damit auch an religiösen Zeremonien zu beteiligen.«

Edward war nicht besänftigt. »Aber zu beten, nur um Unstimmigkeiten zu vermeiden, ist für mich eine scheinheilige Observanz.«

»Diese Ansicht haben viele geäußert, Edward, doch Epikur schreibt auch, dass wir die Götter als perfekte Wesen verehren sollen. Darüber hinaus erlangen wir aus dem Nachsinnen über ihre perfekte Existenz ästhetische Wonnen. Es ist spät geworden, meine Herren. Das alles sind famose Fragen, und wir werden jede einzelne betrachten, während wir sein Werk studieren.«

Der Tag endete damit, dass Bento und seine Lehrer die Rollen tauschten. Er gab Vater und Tochter einen halbstündigen Hebräischunterricht, nach welchem van den Enden ihn bat, noch ein wenig länger zu einer privaten Unterredung zu bleiben.

»Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch bei unserem ersten Treffen?«

»Ich erinnere mich noch sehr gut daran, und ich lerne bei Ihnen tatsächlich gleichgesinnte Gefährten kennen.«

»Zweifellos haben Sie bemerkt, dass einige der Kommentare Epikurs sehr gut zu Ihrem derzeitigen Dilemma mit Ihrer Gemeinde passen.«

»Ich habe mich schon gefragt, ob manche seiner Bemerkungen, wie diese, unbeschwert an den religiösen Zeremonien der Gemeinde teilzunehmen, auf mich abzielten.«

»So ist es. Und, haben sie ihr Ziel erreicht?«

»Beinahe, aber sie waren so von Widersprüchen belastet, dass sie nicht ins Schwarze trafen.«

»Wie das?«

»Ich kann mir für mich selbst nicht vorstellen, wie Gelassenheit aus dem Boden von Heuchelei sprießen sollte.«

»Sie spielen, wie ich annehme, auf Epikurs Rat an, alles Notwendige zu tun, um sich in eine Gemeinde einzufügen und folglich auch an öffentlichen Andachten teilzunehmen.«

»Ja, das nenne ich Heuchelei. Selbst Edward reagierte darauf. Wie kann innere Harmonie vorherrschen, wenn man sich selbst untreu ist?«

»Eigentlich wollte ich mich mit Ihnen hauptsächlich über Edward unterhalten. Was glauben Sie, wie er zu unserer Diskussion und zu Ihnen steht?«

Überrascht von dieser Frage, stutzte Bento. »Darauf habe ich keine Antwort.«

»Ich bitte um eine Vermutung.«

»Nun, er ist nicht glücklich mit mir. Er ist wütend, nehme ich an. Vielleicht fühlt er sich bedroht.«

»Ja, gut geraten. Höchst zutreffend, würde ich sagen. Und nun beantworten sie mir diese Frage: Ist es das, was Sie wollen?«

Bento schüttelte den Kopf.

»Und würde Epikur denken, dass Sie sich auf eine Art und Weise verhalten haben, die zum guten Leben hinführt?«

»Ich muss zugeben, dass er das nicht denken würde. In jenem Augenblick glaubte ich allerdings, dass ich klug daran tat, mich weiterer Äußerungen zu enthalten.«

»Welcher zum Beispiel?«

»Dass Gott uns nicht nach seinem Ebenbild geschaffen hat – wir haben ihn nach unserem Ebenbild geschaffen. Wir stellen uns vor, dass er ein Wesen ist wie wir, dass er unsere gemurmelten Gebete hört und dass es ihn interessiert, was wir uns wünschen …«

»Gütiger Gott! Wenn es das ist, was Sie fast ausgesprochen hätten, verstehe ich Ihren Standpunkt. Dann wollen wir sagen, dass Sie zwar unklug, aber nicht vollkommen töricht gehandelt haben. Edward ist strenger Katholik. Sein Onkel war katholischer Bischof. Von ihm zu erwarten, seinen Glauben auf der Grundlage von wenigen Bemerkungen abzulegen, auch wenn es vernünftige Bemerkungen sind, ist höchst irrational und vielleicht sogar gefährlich. Amsterdam genießt im Moment den Ruf, die toleranteste Stadt Europas zu sein. Aber denken Sie an die Bedeutung des Wortes ›tolerant‹ – es konnotiert, dass wir allen anderen Glaubensrichtungen gegenüber tolerant sind, auch wenn wir sie für irrational halten.«

»Ich komme immer mehr zu der Überzeugung«, sagte Bento, »dass jemand, der unter Menschen mit stark unterschiedlichen Glaubensrichtungen lebt, ihnen nur dann gerecht werden kann, wenn er sich selbst stark verändert.«

»Nun beginne ich, den Bericht meines Spions über den Aufruhr in der jüdischen Gemeinde über Sie zu verstehen. Erzählen Sie anderen Juden alle Ihre Gedanken?«

»Vor etwa einem Jahr beschloss ich, in meinen Meditationen immer wahrheitsgetreu …«

»Ah«, unterbrach van den Enden, »nun verstehe ich, weshalb Ihre Geschäfte so schlecht laufen. Ein Geschäftsmann, der die Wahrheit sagt, ist ein Oxymoron.«

Bento schüttelte den Kopf: »Oxymoron?«

»Aus dem Griechischen. Oxys bedeutet schlau; moros bedeutet töricht. Demnach bezieht sich Oxymoron auf ein Paradox in sich. Stellen Sie sich einmal vor, was

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