Der Heiler - By Tuomainen, Antti

Für Anu

ZWEI TAGE VOR WEIHNACHTEN

1 Was würde ich eher aushalten: die Gewissheit, dass das Schlimmste passiert war? Oder diese von Minute zu Minute wachsende Angst? Raschen Zusammenbruch oder langsame Zermürbung?

Das plötzliche Ausweichmanöver rüttelte mich durch. Ich erwachte aus meinen Gedanken und blickte auf.

Gelbschwarze Flammen schlugen aus dem Lieferwagen, der auf der Uferstraße von Sörnäinen gegen den Stützpfeiler der Fußgängerbrücke geprallt war. Das Fahrzeug war in der Mitte auseinandergerissen. Keines der vorbeifahrenden Autos drosselte das Tempo oder hielt an. Alle wichen rasch auf die äußere Spur aus, um das brennende Wrack weiträumig zu umfahren.

Das tat auch der Bus, in dem ich saß.

Ich öffnete meine regennasse Jacke, fand die Taschentücher in der Innentasche, zerrte mit klammen Fingern eins aus der Packung und trocknete mir damit Gesicht und Haare ab. Das Tuch war im Nu klatschnass, ich drückte es zusammen und steckte es in die Tasche. Dann schüttelte ich die Wassertropfen von der Jacke und zog das Handy aus der Hosentasche. Ich versuchte erneut, Johanna anzurufen.

Wieder kam keine Verbindung zustande.

Der U-Bahntunnel zwischen Sörnäinen und Keilaniemi war wegen Überflutungen gesperrt worden. Am Bahnhof Kalasatama mussten alle aus der U-Bahn aussteigen und zwanzig Minuten bei strömendem Regen auf den Bus warten.

Das brennende Auto blieb hinter uns zurück, und ich blickte zu dem Monitor, der an der Panzerglaskabine des Fahrers hing. Dort kamen die Nachrichten des Tages: Die Südteile Spaniens und Italiens waren offiziell sich selbst überlassen worden. Bangladesch versank im Meer, die Pest war ausgebrochen und drohte sich in ganz Asien auszubreiten. Der Streit Indiens und Chinas um die Wasserreserven im Himalaja trieb beide Länder in den Krieg. Die Grenzschließung der USA zu Mexiko beantworteten die mexikanischen Drogenkartelle mit Raketen, Ziele waren Los Angeles und San Diego. Die Waldbrände am Amazonas konnten nicht aufgehalten werden, obwohl man neue Flussläufe aufgesprengt hatte, um das Brandgebiet zu isolieren. Aktuelle Kriege oder bewaffnete Konflikte auf dem Gebiet der Europäischen Union: dreizehn, die meisten an den Grenzen. Geschätzte Anzahl der Klimaflüchtlinge weltweit: 650–800 Millionen. Pandemiewarnungen: H3N3, Malaria, Tuberkulose, Ebola, Pest. Ein bisschen Unterhaltung zum Abschluss: Die frisch gekürte Miss Finnland glaubt, dass im Frühjahr alles viel besser wird.

Ich sah wieder hinaus in den Regen, der schon mehrere Monate anhielt. Der Niederschlag hatte Anfang Sep­tember begonnen und seither nur für wenige Augenblicke eine Pause eingelegt. Fast alle Stadtteile am Meer waren überflutet: zumindest Jätkäsaari, Kalasatama, Ruoholahti, Herttoniemenranta und Marjaniemi. Viele Bewohner hatten bereits endgültig resigniert und ihr Zuhause ver­lassen.

Die Wohnungen blieben nicht lange leer. Schimmelig, feucht und teilweise voller Wasser wurden sie zur Bleibe für die Hunderttausenden von Flüchtlingen, die ins Land gekommen waren. Abends leuchteten diese überschwemmten Stadtteile ohne Strom wegen der hellen ­hohen Flammen der Kochstellen und Lagerfeuer.

Am Bahnhofsplatz stieg ich aus dem Bus. Die letzte Wegstrecke hätte ich durch den Kaisaniemi-Park abkürzen können, aber ich entschied mich für die Kaivokatu, die Brunnenstraße. Die Parks waren schlechter bewacht als die Straßen, es fehlte an Polizisten. Im Bahnhofs­bereich musste man sich durch Menschenmassen schieben. Die Bewohner verließen in Panik die Stadt, sie reis­ten in überfüllten Zügen gen Norden und schleppten vollgepackte Koffer oder Rucksäcke mit sich.

Vor dem Bahnhof lagen unter aufgespannten Plastik­planen reglose Gestalten in Schlafsäcken. Es war unmöglich zu sagen, ob diese Menschen hier wohnten oder ob sie irgendwo hinwollten. Das Licht der Scheinwerfer ­vermischte sich mit den Autoabgasen, dem gelblichen Leuchten der Straßenlampen und dem grellen Rot, Blau und Grün der Werbetafeln. Neben dem Bahnhof stand das halb abgebrannte Postgebäude als grauschwarzes Skelett. Als ich daran vorbeiging, versuchte ich wieder, Johanna anzurufen.

Ich kam zum Zeitungshaus, stand eine halbe Stunde bei der Sicherheitskontrolle an, ließ meine Tasche und mein Handy checken, entledigte mich meiner Jacke, der Schuhe und des Gürtels, zog anschließend alles wieder an und ging zur Rezeption.

Ich bat die Empfangsdame, Johannas Chef anzurufen. Aus irgendeinem Grund hatte er nicht auf meine Anrufe reagiert. Ich hatte den Mann ein paar Mal getroffen und vermutete, dass er antworten würde, wenn der Anruf aus dem eigenen Haus kam.

Die Frau am Empfang war um die dreißig und hatte ­einen eisigen Blick, ihre kurzen Haare und die kontrollierten Gesten verrieten die ehemalige Berufssoldatin, die jetzt mit der Waffe an der Hüfte über die physische Unversehrtheit der letzten Zeitung des Landes wachte.

Sie sah mir in die Augen, während sie in den Hörer sprach. »Ein Mann namens Tapani Lehtinen … Die Identität habe ich überprüft … Natürlich … Moment.« Ein Nicken in meine Richtung, die Kopfbewegung war wie ein Axthieb. »Ihr Anliegen?«

»Meine Frau Johanna Lehtinen ist verschwunden.«

2 Halb aus Versehen hatte ich mein Telefonat mit ­Johanna aufgezeichnet und konnte es inzwischen auswendig:

»Ich habe heute

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