Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,1

hatten.

Aber mein Gastgeber riss mich schon bald aus meinen Träumereien: »Natürlich wurden seine Habseligkeiten – das Bett, die Kleidung, die Schuhe, Schreibfedern und Bücher – nach seinem Tod versteigert, um die Kosten für das Begräbnis aufzubringen, Dr. Yalom. Die Bücher wurden verkauft und in alle Winde zerstreut, aber glücklicherweise hatte der Notar vor der Versteigerung eine vollständige Bücherliste angefertigt, und über zweihundert Jahre später suchte ein jüdischer Philanthrop die meisten dieser Titel wieder zusammen, nach Ausgabe, Jahreszahl und Ort der Veröffentlichung. Deshalb nennen wir sie die Spinoza-Bibliothek, obwohl es sich in Wirklichkeit nicht um die Originale handelt. Seine Finger haben diese Bücher nie berührt.«

Ich drehte der Bibliothek den Rücken zu und betrachtete das Portrait Spinozas, das an der Wand hing. Bald spürte ich, wie ich in diese riesigen, traurigen, mandelförmigen, müden Augen eintauchte, ein fast mystisches Erlebnis – etwas, das mir nicht oft passiert. Aber dann sagte mein Gastgeber: »Vielleicht wissen Sie es nicht, aber Spinoza sah nicht wirklich so aus. Der Künstler malte das Bild nach einer nur wenige Zeilen umfassenden Beschreibung. Sollte es von Spinoza zu seinen Lebzeiten Zeichnungen gegeben haben, so ist jedenfalls keine von ihnen erhalten.«

Vielleicht eine Geschichte über schlichte Unzugänglichkeit?, fragte ich mich.

Während ich mir die Gerätschaften für das Schleifen der Linsen im zweiten Raum ansah – wiederum nicht sein Originalwerkzeug, wie auf einem Schild im Museum stand, sondern nur eine ähnliche Ausrüstung –, hörte ich, wie einer meiner Gastgeber in der Bibliothek nebenan von den Nazis sprach.

Ich ging zurück. »Wie bitte? Die Nazis waren hier? In diesem Museum?«

»Ja – mehrere Monate nach dem Blitzkrieg in Holland fuhren die Soldaten vom ERR mit ihren großen Limousinen vor und stahlen alles – die Bücher, eine Büste und ein Portrait von Spinoza –, einfach alles. Sie karrten alles weg und versiegelten und enteigneten das Museum.«

»ERR? Was bedeutet das?«

»Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg. Die Taskforce von Reichsleiter Rosenberg. Alfred Rosenberg war der wichtigste antisemitische Ideologe der Nazis. Er hatte den Auftrag, Kriegsbeute für das Dritte Reich einzusammeln, auf Befehl Rosenbergs plünderte der ERR ganz Europa – zunächst nur jüdisches Eigentum und später dann alles, was irgendeinen Wert hatte.«

»Demnach sind diese Bücher Spinozas zweimal abhanden gekommen?«, fragte ich. »Meinen Sie damit, dass diese Bücher noch einmal neu angeschafft werden mussten und die Bibliothek ein zweites Mal zusammengestellt wurde?«

»Nein – die Bücher haben wie durch ein Wunder überlebt und wurden nach dem Krieg bis auf wenige verlorengegangene Exemplare wieder hierher zurückgebracht.«

»Unglaublich!« Das riecht nach einer Geschichte, dachte ich. »Aber warum kümmerte Rosenberg sich überhaupt um diese Bücher? Mir ist schon klar, dass sie einen gewissen Wert besitzen – immerhin stammen sie aus dem siebzehnten Jahrhundert oder sind noch älter –, aber warum sind die Leute nicht einfach ins Rijksmuseum von Amsterdam marschiert und haben sich einen Rembrandt unter den Nagel gerissen? Der wäre das Fünfzigfache der ganzen Sammlung wert gewesen.«

»Nein, darum ging es nicht. Geld hatte nichts damit zu tun. Der ERR hatte ein seltsames Interesse an Spinoza. Der Mitarbeiter Rosenbergs, der Nazi, der die Bibliothek auf seinen Befehl hin plünderte, hinterließ in seinem offiziellen Bericht einen vielsagenden Satz: ›Auch diese Bibliotheken … enthalten ausserordentlich wertvolle frühe Werke, die zur Erforschung des Spinozaproblems (sic!) von besonderer Bedeutung sind.‹ Sie können sich den Bericht im Web ansehen, wenn Sie wollen – er befindet sich in den offiziellen Dokumenten des Nürnberger Prozesses.«

Ich war wie vom Donner gerührt. »›Erforschung des Spinoza-Problems‹? Das verstehe ich nicht. Was meinte er damit? Was war das Spinoza-Problem der Nazis?«

Wie auf Kommando hoben meine Gastgeber gleichzeitig die Schultern und drehten ihre Handflächen nach oben.

Ich bohrte weiter: »Sie sagen also, dass sie wegen dieses Spinoza-Problems die Bücher in Sicherheit brachten und nicht wie so vieles in Europa einfach verbrannt haben?«

Sie nickten.

»Und wo wurde die Bibliothek während des Krieges gelagert?«

»Das weiß niemand. Die Bücher waren einfach fünf Jahre lang verschwunden und tauchten 1946 in einem deutschen Salzbergwerk wieder auf.«

»In einem Salzbergwerk? Nicht zu fassen!« Ich nahm eines der Bücher in die Hand – eine Ausgabe der Ilias aus dem sechzehnten Jahrhundert –, drückte es an mich und sagte: »Dann hat dieses alte Geschichtenbuch seine eigene Geschichte zu erzählen.«

Meine Gastgeber führten mich durch das übrige Haus. Ich war zu einer günstigen Zeit gekommen – nur wenige Besucher hatten jemals die andere Hälfte des Gebäudes zu sehen bekommen, in dem über Jahrhunderte Abkömmlinge einer Arbeiterfamilie gewohnt hatten. Das letzte Familienmitglied war aber vor kurzem gestorben, und die Spinoza-Gesellschaft hatte die Immobilie sofort gekauft und gerade mit der Restaurierung begonnen, um sie später dem Museum anzugliedern. Ich schlenderte inmitten von Bauschutt durch die bescheidene Küche

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