Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,95

Conversos und selbst diejenigen, die zwei oder drei Generationen älter sind, unter strengem Verdacht, und viele Karrieren bleiben ihnen versagt – in der Kirche, beim Militär, in vielen Gilden und in öffentlichen Ämtern.«

»Offenkundig willkürliche Überzeugungen, wie ›drei, aber nicht vier Generationen‹, wurden augenscheinlich erfunden, um dem Urheber einen Dienst zu erweisen. Falsche Überzeugungen wird es so lange geben, wie es Arme auf der Welt gibt, und ich kann nichts gegen ihr Fortbestehen tun. Und nun strebe ich danach, mich nur noch um die Dinge zu kümmern, die ich selbst beeinflussen kann.«

»Wie zum Beispiel?«

»Ich glaube, dass ich wirkliche Kontrolle nur über eines habe: über den Fortschritt meiner Erkenntnis.«

»Bento, mir liegt etwas auf der Seele, von dem ich weiß, dass es unmöglich ist.«

»Aber nicht unmöglich, es zu sagen?«

»Ich weiß, es ist unmöglich, aber ich möchte Sie begleiten! Sie denken bedeutende Gedanken, und ich weiß, dass Sie noch bedeutendere denken werden. Ich möchte Ihnen folgen, Ihr Schüler sein, Ihr Diener, ich möchte teilhaben an dem, was Sie tun werden, Ihre Manuskripte abschreiben, Ihnen Ihr Leben erleichtern.«

Bento sagte einen Augenblick lang nichts. Er lächelte und schüttelte dann den Kopf.

»Das, was Sie da sagen, ist schmeichelhaft, ja sogar verführerisch für mich. Lassen Sie mich darauf von innen her wie auch von außen her antworten.

Zuerst von innen her. Obwohl ich mir ein zurückgezogenes Leben wünsche und es unbedingt anstrebe, spüre ich, dass ein anderer Teil in mir sich nach Vertrautheit sehnt. Manchmal kann ich in eine unbeschreiblich starke Sehnsucht nach lange entbehrten Gefühlen abgleiten, nach Geborgenheit in einer trauten Familie, und dieser Teil von mir – der sich sehnende Teil – begrüßt Ihren Wunsch, möchte Sie am liebsten in die Arme schließen und ›ja, ja, ja!‹ rufen. Gleichzeitig schreit ein anderer Teil in mir, mein stärkerer und wichtigerer Teil, nach Freiheit. Es schmerzt mich, dass die Vergangenheit vergangen ist und niemals zurückkehren wird. Es schmerzt mich, daran zu denken, dass alle diejenigen, die mir Geborgenheit gaben, tot sind, und ich hasse auch diesen Schmerz, der mich in Ketten legt und mich bremst. Ich kann vergangene Ereignisse nicht beeinflussen, aber ich habe mich entschlossen, für die Zukunft starke Bindungen zu vermeiden. Ich werde mich niemals mehr in meine kindische Sehnsucht hüllen, geborgen sein zu wollen. Verstehen Sie das?«

»Ja, viel zu gut.«

»So viel zum Inneren. Lassen Sie mich nun von außen her antworten: Ich vermute, Ihr Wort ›unmöglich‹ bezog sich auf die Unmöglichkeit, Ihre Familie zu verlassen. Wäre ich an Ihrer Stelle, wäre es mir auch unmöglich. Mir selbst fällt es schon schwer genug, meinen jüngeren Bruder zu verlassen. Meine Schwester hat ihre eigene Familie, und um sie mache ich mir weniger Sorgen. Aber es ist nicht nur Ihre Familie, Franco, die Sie daran hindert, sich mir anzuschließen. Es gibt andere Hindernisse. Erst vor wenigen Minuten sagten Sie mir, dass Sie sich ein Leben ohne eine Gemeinde nicht vorstellen könnten. Doch mein Weg ist ein Weg der Einsamkeit, und, abgesehen von der vollkommenen Absorption in Gott, sehnt er sich nach keiner Gemeinschaft. Ich werde niemals heiraten. Und selbst wenn ich eine Heirat wünschte, wäre es nicht möglich. Als einzelgängerische Kuriosität kann ich vielleicht ohne Religionszugehörigkeit leben, aber es ist zweifelhaft, ob es selbst in Holland, dem tolerantesten Land der Welt, einem Paar gestattet wäre, ein solches Leben zu führen und Kinder zu erziehen, ohne einer Kirche anzugehören. Und mein einzelgängerisches Leben heißt auch: keine Tanten, keine Onkel, keine Vettern, keine Familienfeste, kein Pessachmahl, kein Rosh Hashanah. Nur Einsamkeit.«

»Ich verstehe, Bento. Ich verstehe, dass ich geselliger bin und vielleicht größere Bedürfnisse habe. Ich bewundere Ihre außerordentliche Selbstgenügsamkeit. Mir scheint, Sie wollen niemanden und brauchen niemanden.«

»Das habe ich schon so oft gehört, dass ich allmählich selbst daran glaube. Es ist nicht so, dass mir die Gesellschaft anderer Menschen keine Freude bereitete – in diesem Augenblick genieße ich unser Gespräch, Franco. Aber Sie haben Recht: Ein gesellschaftliches Leben ist für mich nicht lebenswichtig. Jedenfalls nicht so lebenswichtig, wie es für andere zu sein scheint. Ich erinnere mich, wie verstört meine Schwester und mein Bruder immer waren, wenn sie zu irgendeiner Veranstaltung mit ihren Freunden nicht eingeladen wurden. So etwas störte mich nie im Geringsten.«

»Ja«, nickte Franco, »Das stimmt. Ich könnte nicht so wie Sie leben. Das ist mir tatsächlich fremd. Aber überlegen Sie, Bento, welche andere Wahl mir bleibt. Vor Ihnen steht jemand, der so viele Ihrer Zweifel und auch Ihre Wünsche, frei von Aberglauben zu leben, mit Ihnen teilt, und doch ist es mein Schicksal, mich in eine Synagoge zu setzen, zu einem Gott zu beten, der mich nicht hört,

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