Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,90

auf seinen Tee, trank einen Schluck und wandte sich wieder Alfred zu. »Ich glaube, jetzt ist die Zeit gekommen, sie zu lesen. Es ist eine schwierige Lektüre. Ich habe ein einjähriges Seminar darüber besucht, und wir haben in der Klasse oft eine geschlagene Stunde damit zugebracht, eine einzige Seite zu diskutieren. Ich rate dir, es langsam anzugehen. Das Buch ist unbeschreiblich dicht und berührt fast alle wichtigen Aspekte der Philosophie – Tugend, Freiheit und Determinismus, das Wesen Gottes, Gut und Böse, persönliche Identität, das Verhältnis zwischen Körper und Geist. Vielleicht war nur noch die Politeia Platons so breit gefächert.«

Friedrich warf abermals einen Blick über den leeren Speisesaal. »Auch wenn Herr Steiner aus Höflichkeit das Gegenteil behauptet, denke ich doch, dass wir ihn hier aufhalten. Gehen wir in mein Zimmer. Wenn ich einen Blick in meine Aufzeichnungen werfe, kann ich meine Erinnerung vielleicht auffrischen. Dann kann ich dir auch gleich Eugens Adresse geben.«

Friedrichs Zimmer im Schlafbereich für die Ärzte war mit Bücherschrank, Schreibtisch, Stuhl und akkurat gemachtem Bett ziemlich spartanisch eingerichtet. Friedrich bot Alfred den Stuhl an und gab ihm sein Exemplar der Ethik zum Durchblättern, während er sich auf das Bett setzte und einen alten Aktenordner mit handschriftlichen Aufzeichnungen durchblätterte. Nach zehn Minuten begann er: »Nun, einige allgemeine Anmerkungen. Zuerst – und das ist wichtig – lass dich von dem geometrischen Stil nicht entmutigen. Ich glaube nicht, dass irgendein Leser gut damit zurechtgekommen ist. Mit diesen präzisen Definitionen, Axiomen, Aussagen, Beweisen und Schlussfolgerungen erinnert der Stil an Euklid. Der Text ist teuflisch schwierig zu lesen, und niemand weiß, warum er sich für eine solche Art zu schreiben entschieden hat. Ich erinnere mich, dass du sagtest, du hättest den Versuch aufgegeben, weil der Text dir undurchdringlich erschien, aber ich bitte dich sehr darum durchzuhalten. Mein Professor bezweifelt, dass Spinoza wirklich auf diese Art gedacht hat; er betrachtete es eher als anspruchsvolles pädagogisches Element. Vielleicht war es nur der natürliche Weg, seine fundamentale Idee zu präsentieren, dass nämlich nichts kontingent ist, dass alles in der Natur seine Ordnung hat, verständlich ist und von anderen Ursachen benötigt wird, um genau das zu sein, was es ist. Oder vielleicht wollte er, dass die Logik regiert und dass seine Schlussfolgerungen dadurch, dass er sich selbst vollkommen unsichtbar macht, von Logik untermauert und nicht von vornherein durch Rückgriff auf Rhetorik oder Autoritäten und auch nicht durch Verweis auf seine jüdische Herkunft präjudiziert werden. Er wollte sein Werk wie eine mathematische Aufgabe beurteilt wissen – durch die schiere Logik seiner Methode.«

Friedrich nahm Alfred das Buch wieder aus der Hand und blätterte es durch. ›Es ist in fünf Teile untergliedert‹, erklärte er. ›Über Gott‹, ›Über die Natur und den Ursprung des Geistes‹, ›Über den Ursprung und die Natur der Affekte‹, ›Über die menschliche Unfreiheit, oder die Macht der Affekte‹, ›Über die Macht der Erkenntnis, oder die menschliche Freiheit‹. Der vierte Abschnitt ›Über die menschliche Unfreiheit‹ interessiert mich am meisten, weil er die größte Relevanz für mein Fachgebiet hat. Vorhin sagte ich, dass ich seit unserem letzten Treffen nicht mehr an ihn gedacht hatte, aber jetzt, da wir darüber sprechen, fällt mir auf, dass das nicht stimmt. Wenn ich psychiatrische Abhandlungen lese oder Vorträge höre oder mich mit Patienten unterhalte, geht mir Spinozas weithin verkannter Einfluss auf mein Gebiet der Psychiatrie durch den Kopf. Und der fünfte Teil ›Über die Macht der Erkenntnis oder die menschliche Freiheit‹ ist für meine Arbeit ebenfalls relevant und sollte auch dich interessieren. Das ist der Abschnitt, von dem Goethe wohl am meisten profitiert haben dürfte.

Ein paar Gedanken zu den ersten beiden Teilen …« Friedrich warf einen Blick auf die Uhr. »Diese sind für mich die schwierigsten und abstrusesten Abschnitte, in denen ich bis heute nicht jeden Gedanken nachvollziehen kann. Hauptsächlich geht es darum, dass alles im Universum aus einer einzelnen, ewigen Substanz besteht, nämlich der Natur oder Gott. Und vergiss nicht, dass er diese beiden Begriffe synchron verwendet.«

»Der Name ›Gott‹ müllt wirklich jede Seite zu?«, fragte Alfred. »Ich dachte, er war nicht gläubig.«

»Dazu gibt es viele widersprüchliche Ansichten. Viele bezeichnen ihn als Pantheisten. Mein Professor sah ihn lieber als abweichlerischen Atheisten, der den Begriff ›Gott‹ wiederholt verwendete, um die Leser des siebzehnten Jahrhunderts bei der Stange zu halten. Und um seine Bücher und sich persönlich davor zu schützen, den Flammen übergeben zu werden. Bestimmt verwendet er ›Gott‹ nicht im konventionellen Sinn. Er zieht gegen die naive Behauptung von Menschen zu Felde, nach Gottes Ebenbild geschaffen worden zu sein. Irgendwo, ich glaube, in seinen Briefen, sagt er, dass, wenn Dreiecke denken könnten, sie einen

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