Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,70

geträumt hatte. Ich gehe mit Friedrich in den Wald. Wir unterhalten uns. Plötzlich verschwindet er, und ich bin allein. Ich komme an anderen Leuten vorbei, die mich anscheinend nicht sehen. Ich komme mir unsichtbar vor. Ich bin unsichtbar. Dann wird es dunkel im Wald. Ich habe Angst. Das war alles, woran er sich erinnern konnte. Es gab noch mehr, das wusste er, aber er konnte es nicht abrufen. Seltsam, sinnierte er, wie flüchtig Träume sein können. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er geträumt hatte, bis ihm dieses Bruchstück plötzlich eingefallen war. Die Erinnerung war vermutlich durch die Verbindung zwischen Spinoza und Friedrich ausgelöst worden. Und nun stand er hier in der Warteschlange, um Spinozas Theologisch-Politischen Traktat abzuholen, das Werk, das Friedrich ihm zu lesen empfohlen hatte, bevor er sich an die Ethik wagte. Seltsam, dass er so oft an Friedrich dachte – schließlich hatten sie sich nur zwei Mal getroffen. Nein, das stimmte nicht ganz. Friedrich hatte ihn schon als Kind gekannt. Vielleicht war es ja auch nur die außergewöhnliche, seltsam vertraute Art ihrer Unterhaltung gewesen.

Als Alfred im Büro eintraf, war Eckart noch nicht aufgetaucht. Das war nicht ungewöhnlich, zumal Eckart jeden Abend ziemlich viel trank und am Morgen zu unregelmäßigen Zeiten erschien. Alfred überflog das Vorwort in Spinozas Buch, welches hielt, was er sich davon versprochen hatte. Dieses Buch zu lesen war kein Problem – die Prosa war glasklar. Friedrich hatte Recht: Es war ein Fehler gewesen, mit der Ethik zu beginnen. Schon die allererste Seite erregte Alfreds Aufmerksamkeit: »So närrisch macht den Menschen die Furcht; sie ist es, die den Aberglauben erzeugt, nährt und begünstigt«, las er. Und: »… so finden wir, daß vorzugsweise solche Menschen, welche nach unsicheren Glücksgütern recht heftiges Verlangen haben, jeder Art von Aberglauben zugethan sind und daß ferner so ziemlich alle Menschen, namentlich wenn sie in Gefahr schweben und sich nicht zu helfen wissen, mit Gebeten und weibischen Thränen die göttliche Hilfe erflehen.« Wie konnte ein Jude des siebzehnten Jahrhunderts so schreiben? Das waren die Worte eines Deutschen des zwanzigsten Jahrhunderts!

Auf der folgenden Seite beschrieb Spinoza, welch unsägliche Mühe darauf verwandt wurde, eine »Religion … durch Bräuche und gottesdienstliche Einrichtungen so auszuschmücken, daß im Geiste nicht der kleinste Raum für die gesunde Vernunft oder auch nur für den Zweifel bleibt«. Verblüffend! Und das war noch nicht alles! Spinoza fuhr fort, die Religion als Hort »alberner Geheimnisse« zu bezeichnen, welche diejenigen anlockt, »welche die Vernunft geradezu verachten«. Alfred schnappte nach Luft. Seine Augen wurden immer größer.

Die Hebräer Gottes »auserwähltes Volk«? »Unsinn«, sagte Spinoza. Er vertrat den Standpunkt, dass bei einer informierten und redlichen Lektüre des mosaischen Rechts klar werde, dass Gott die Juden nur insoweit bevorzugte, als er ihnen einen schmalen Streifen Land gab, auf welchem sie in Frieden leben konnten.

Und die Heilige Schrift »Gottes Wort«? Spinozas kraftvolle Prosa zerstreute diese Vorstellung in alle Winde, als er behauptete, dass die Bibel nur spirituelle Wahrheiten enthielt – namentlich die Ausübung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit –, jedoch keine irdischen Wahrheiten. Alle diejenigen, die irdische Gesetze und Wahrheiten in der Bibel fänden, irrten oder verfolgten eigene Interessen, behauptete Spinoza.

Das Vorwort endete mit einer Warnung: »Die Menge also … lade ich nicht ein, dieses zu lesen«, und fährt mit der Erklärung fort, dass diejenigen, die meinen, »die Vernunft müsse die Magd der Theologie sein«, aus diesem Werk keinen Nutzen ziehen könnten.

Verblüfft von diesen Worten konnte Alfred nicht anders, als Spinozas Dreistigkeit zu bewundern. Im kurzen biographischen Abriss stand, dass, obwohl das Buch im Jahre 1670 anonym veröffentlicht wurde (Spinoza war damals achtunddreißig Jahre alt), die Identität des Autors weithin bekannt war. Im Jahr 1670 solche Worte zu schreiben bedurfte einigen Mutes: In jenem Jahr war es erst zwei Generationen her, dass Giordano Bruno wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, und nur eine einzige Generation, seit Galilei im Vatikan der Prozess gemacht wurde. In der Einleitung stand zu lesen, dass das Buch vom Staat, von der katholischen Kirche und von den Juden unverzüglich und kurz danach auch von den Calvinisten verboten wurde. Das alles sprach für dieses Werk.

An der außerordentlichen Intelligenz des Autors war nicht zu rütteln. Nun verstand Alfred endlich, endlich, weshalb der große Goethe und all die anderen Deutschen, die er so sehr liebte – Schelling, Schiller, Hegel, Lessing, Nietzsche –, diesen Mann verehrten. Wie konnten sie einen Geist wie diesen auch nicht bewundern? Aber natürlich hatten sie in einem anderen Jahrhundert gelebt und nichts von der neuen Rassenforschung gewusst, nichts von den Gefahren vergifteten Blutes – sie bewunderten schlicht und einfach diese Mutation, diese

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