Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,56

entsprach seiner Physis – unnachgiebig, kompromisslos, oppositionell –, und er beharrte darauf, dass allen reulosen Juden, welche jüdisches Gesetz brachen, der Zugang zur zukünftigen himmlischen Welt für alle Ewigkeit verwehrt war und sie stattdessen ewige Verdammnis erleiden sollten. Gesetz war Gesetz, da gab es keine Ausnahmen, auch nicht für diejenigen Juden, die sich der portugiesischen und spanischen Inquisition nur deshalb unterwarfen, um der angedrohten Todesstrafe zu entgehen. Alle Juden, die nicht beschnitten waren, die die Speisevorschriften nicht einhielten, die den Sabbat oder andere der Myriaden von religiösen Vorschriften nicht befolgten, sollten ewige Verdammnis erleiden.

Morteras unversöhnliche Deklaration erzürnte die Amsterdamer Juden, die Conversos in ihrer Verwandtschaft hatten, welche noch immer in Portugal oder Spanien lebten, doch er ließ sich nicht erweichen. So erbittert und entzweiend war die anschließende Debatte, dass die ältesten Gemeindemitglieder das Rabbinat von Venedig anriefen und baten, zu intervenieren und eine endgültige Interpretation des jüdischen Gesetzes vorzulegen. Die venezianischen Rabbiner stimmten widerwillig zu und lauschten den oftmals hitzig vorgetragenen Argumenten der Delegierten beider Seiten in der festgefahrenen Debatte. Zwei Stunden lang brüteten sie über ihrer Antwort. Mägen knurrten. Das Abendessen wurde verschoben, und schließlich kamen sie zu der einstimmigen Entscheidung, dass sie keine Entscheidung trafen: Sie wollten sich nicht an dieser dornenreichen Debatte beteiligen und verfügten, dass das Problem innerhalb der Amsterdamer Kongregation selbst gelöst werden müsse.

Doch die Amsterdamer Gemeinde konnte keine Lösung finden, und um eine irreparable Spaltung zu verhindern, entsandten sie eilig eine zweite Notdelegation nach Venedig, welche mit noch mehr Nachdruck für eine Intervention von außen plädierte. Schließlich kam das venezianische Rabbinat zu einem Beschluss und unterstützte die Ansicht Saul Morteras (der, nebenbei bemerkt, in der Jeschiva in Venedig ausgebildet worden war). Die Delegation eilte mit dem rabbinischen Urteil nach Amsterdam zurück, und vier Wochen später standen viele Mitglieder der Kongregation mit düsteren Mienen am Hafen, während die Habseligkeiten von Rabbi Aboab auf ein Schiff nach Brasilien verladen wurden. Sie winkten dem niedergeschlagenen Rabbi und seiner Familie nach, der nun rabbinische Aufgaben in der fernen Hafenstadt Recife übernehmen sollte. Von diesem Zeitpunkt an würde kein Rabbiner in Amsterdam sich jemals wieder gegen Rabbi Mortera stellen.

An diesem Tag sah Saul Mortera sich mit einer weit persönlicheren, schmerzhaften Krise konfrontiert. Die Parnassim der Synagoge waren am Abend zuvor zusammengekommen, hatten eine Entscheidung zum Spinoza-Problem gefasst und ihren Rabbiner angewiesen, Baruch von seiner Exkommunikation in Kenntnis zu setzen, die zwei Tage später in der Talmud-Thora-Synagoge ausgesprochen werden sollte. Vierzig Jahre lang hatte Baruchs Vater, Michael Spinoza, zu einem der engsten Freunde und Unterstützer Saul Morteras gezählt. Michaels Name stand auf dem Treuhandvertrag für den Kauf von Beth Jacob, und über Jahrzehnte hatte er die Finanzen (aus denen das Gehalt des Rabbis bezahlt wurde) und weitere karitative Einrichtungen der Synagoge großzügig unterstützt. In dieser ganzen Zeit hatte Michael so gut wie nie bei den Mitgliederversammlungen der Krone des Gesetzes gefehlt, Rabbi Morteras Erwachsenenbildungsgruppe, die sich beim Rabbi zu Hause traf. Und unzählige Male hatte Michael, manchmal in Begleitung seines Sohnes, des Wunderkindes Baruch, zusammen mit nicht weniger als vierzig Leuten an seinem Tisch zu Abend gegessen. Darüber hinaus hatten Michael und auch Michaels älterer Bruder Abraham oft als Parnassim fungiert, als Mitglieder des Gemeindevorstandes, der obersten Instanz für die Lenkung der Synagoge.

Doch nun grübelte der Rabbiner: Jeden Augenblick … Wo blieb Baruch überhaupt? Er würde heute den Sohn seines lieben Freundes über die Kalamitäten unterrichten müssen, die ihn erwarteten. Saul Mortera hatte bei Baruchs Beschneidung die Gebete gesprochen, dessen makellosen Bar-Mitzwa-Vortrag beaufsichtigt und über die Jahre seine Entwicklung verfolgt. Welch erstaunliche Begabungen dieser Junge doch hatte, Begabungen wie kein anderer! Jeder Unterricht war ihm anscheinend zu einfach, er saugte alle Informationen wie ein Schwamm auf, und während die übrige Klasse sich mit dem normalen Lehrplan abmühte, gaben ihm die Lehrer immer fortgeschrittenere Texte zum Durcharbeiten. Manchmal sorgte Rabbi Mortera sich, dass der Neid der anderen Schüler in Feindseligkeit gegenüber Baruch umschlagen könnte. Aber dazu kam es nie: Seine Talente waren so offensichtlich, so außerhalb jeglichen Fassungsvermögens, dass er von den anderen Schülern ausgesprochen respektiert und geschätzt wurde, und oft fragten sie ihn und nicht die Lehrer um Rat, wenn verzwickte Probleme bei Übersetzungen oder Interpretationen zu lösen waren. Rabbi Mortera erinnerte sich, dass auch er Baruch bewundert hatte und Michael bei vielen Gelegenheiten bat, Baruch zum Abendessen mitzubringen, wenn er einem berühmten Gast etwas Besonderes bieten wollte. Aber nun seufzte Saul Mortera: Baruchs goldene Periode zwischen vier und vierzehn Jahren war längst vorüber. Der Junge hatte sich verändert, hatte eine falsche Richtung eingeschlagen; nun musste die gesamte Gemeinde der

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