Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,48

und mit einem offensichtlichen beginnen, das vor mir schon anderen Leuten aufgefallen ist. Die Thora beschreibt nicht nur, wie Moses starb und begraben wurde und die dreißigtägige Trauer der Hebräer, sondern vergleicht ihn zudem mit allen Propheten, die nach ihm kamen, und führt aus, dass er sie alle übertraf.

Es liegt auf der Hand, dass ein Mensch nicht darüber schreiben kann, was nach seinem Tod mit ihm geschieht, noch kann er sich mit anderen Propheten vergleichen, die noch nicht geboren sind. Deshalb ist es sicher, dass ein Teil der Thora nicht von ihm geschrieben worden sein kann. Ist das nicht so?«

Franco nickte. Jacob zuckte die Achseln.

»Oder sehen Sie hier!« Bento schlug die Bibel auf einer Seite auf, die mit einem Faden gekennzeichnet war, und zeigte auf einen Abschnitt aus dem Ersten Buch Mose 22. »Hier sehen Sie, dass der Berg Moriah der Berg Gottes genannt wird. Und Historiker berichten uns, dass er diesen Namen erst nach dem Bau des Tempels bekam, viele Jahrhunderte nach Moses’ Tod. Sehen Sie sich diesen Abschnitt an, Jacob: Moses sagt ganz klar, dass Gott irgendwann in der Zukunft einen Ort auswählen wird, der diesen Namen erhalten soll. Weiter vorn wird es so beschrieben und weiter hinten anders. Sehen Sie die eingebauten Widersprüche, Franco?«

Sowohl Franco als auch Jacob nickten.

»Darf ich Ihnen ein anderes Beispiel zeigen?«, fragte Bento, noch immer beunruhigt von Jacobs Wutausbrüchen bei ihrem letzten Treffen. Er sammelte sich: Er wusste, was er tun musste – eine wohldosierte Auswahl treffen und unwiderlegbare Beweise präsentieren. »Es ist unstreitig, dass die Hebräer zur Zeit Moses’ wussten, welche Gebiete dem Stamme Judah gehörten; sie kannten diese aber ganz bestimmt nicht unter dem Namen Argob oder Land der Riesen, wie es in der Bibel zitiert wird. Mit anderen Worten: In der Thora werden Namen verwendet, die erst viele Jahrhunderte nach Moses entstanden sind.«

Bento sah, dass beide nickten, und fuhr fort: »Mit der Schöpfungsgeschichte verhält es sich ähnlich: Sehen wir uns diesen Abschnitt an.« Bento blätterte zu einer weiteren, mit einem roten Faden markierten Seite und las Jacob den hebräischen Abschnitt vor: »›Denn es wohneten zu der Zeit die Kanaaniter im Lande.‹ Nun, dieser Abschnitt kann nicht von Moses geschrieben worden sein, weil die Kanaaniter erst nach dem Tod von Moses vertrieben wurden. Das muss jemand anderer geschrieben haben, der auf jene Zeit zurückblickte, jemand, der wusste, dass die Kanaaniter vertrieben worden waren.«

Als sein Publikum nickte, fuhr Bento fort: »Hier liegt ein weiteres offensichtliches Problem: Moses sollte eigentlich der Verfasser sein, doch der Text spricht von Moses nicht nur in der dritten Person, sondern legt auch Zeugnis von vielen Begebenheiten ab, die ihn betreffen, so zum Beispiel: ›Mose aber sprach zum Herrn‹; ›Aber Mose war ein sehr geplagter Mensch über alle Menschen auf Erden‹, und aus jenem Abschnitt, den ich gestern zitiert hatte: ›Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht.‹

Das meine ich mit eingebauten Ungereimtheiten. Die Thora ist so voll davon, dass wir so sicher sein können, wie die Sonne jeden Tag aufgeht, dass die Bücher Mose nicht von Moses geschrieben sein können. Und es ist irrational, weiterhin zu behaupten, Moses selbst sei der Autor gewesen. Können Sie meinem Argument folgen?«

Abermals nickten Franco und Jacob.

»Dasselbe kann vom Buch der Richter gesagt werden. Niemand kann ernsthaft glauben, dass jeder Richter die Erzählung, die seinen Namen trägt, selbst geschrieben hat. So wie die verschiedenen Erzählungen miteinander verknüpft sind, kann man davon ausgehen, dass alle denselben Urheber haben.«

»Wenn das so ist, wer hat das Buch dann geschrieben und wann?«, fragte Jacob.

»Die Datierung wird durch Angaben wie folgende erleichtert …« Er blätterte zu einer Seite im Buch der Richter und ließ Jacob vorlesen: »›Zu der Zeit war kein König in Israel.‹ Fällt Ihnen die Formulierung auf, Jacob? Das bedeutet, dass dieser Abschnitt geschrieben worden sein muss, nachdem ein Königreich errichtet worden war. Ich vermute stark, dass Ibn Ezra ein wichtiger Verfasser/Sammler des Buches der Könige war.«

»Wer ist er?«, fragte Jacob.

»Ein priesterlicher Schreiber, der im fünften Jahrhundert vor Christus lebte. Er war derjenige, der fünftausend im Exil lebende Hebräer aus Babylon in ihre Heimatstadt Jerusalem zurückführte.«

»Und wann wurde die gesamte Bibel zusammengestellt?«, fragte Franco.

»Ich glaube, wir können sicher sein, dass es vor der Zeit der Makkabäer – also um 200 v. Chr. – keine offizielle Sammlung heiliger Bücher mit dem Namen Bibel gegeben hat. Anscheinend wurde sie von den Pharisäern zur Zeit der Restaurierung des Tempels aus einer Vielzahl von Dokumenten zusammengestellt. Bedenken Sie deshalb bitte, dass das, was heilig ist, und das, was nicht heilig ist, nur eine Sammlung von Ansichten einiger

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