Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,46

Es ist so, als wolltest du analysieren, warum du das Gefühl hast, der Himmel sei blau, oder warum du Bier oder Zucker magst.«

»Nun, Alfred, vielleicht hast du Recht.« Pfister rief sich Bleuler in Erinnerung, der ihn bei mehr als nur einer Gelegenheit ermahnt hatte: »Junger Mann, die Psychoanalyse ist kein Rammbock: Wir hauen nicht einfach drauflos, bis erschöpfte Egos mit ausgefransten, weißen Flaggen der Unterwerfung wedeln. Geduld, Geduld. Gewinnen Sie das Vertrauen des Patienten. Analysieren und verstehen Sie Widerstände – früher oder später wird der Widerstand dahinschmelzen, und der Pfad der Wahrheit wird sich auftun.« Friedrich wusste, dass er das Thema fallen lassen sollte. Aber sein innerer, ungestümer Dämon, der es unbedingt wissen wollte, ließ sich nicht bremsen.

»Ich will nur noch auf einen letzten Punkt eingehen, Alfred. Betrachten wir zum Beispiel deinen Bruder Eugen. Du wirst mir zustimmen, dass er hochintelligent ist, in derselben Kultur aufgewachsen ist wie du, und zwar mit demselben Erbgut, in derselben Umgebung, mit denselben Verwandten, unter denen er lebte. Und dennoch betrachtet er das jüdische Problem ziemlich leidenschaftslos. Er ist nicht vom Deutschsein berauscht und zieht es vor, Belgien als seine wahre Heimat anzusehen. Ein faszinierendes Puzzle, Brüder mit denselben Lebensumständen und doch so unterschiedlichen Ansichten.«

»Wir hatten ähnliche, aber keine identischen Lebensumstände. Zum einen hatte Egon nicht das Pech wie ich, einen judenfreundlichen Direktor in der Realschule zu haben.«

»Wie? Direktor Peterson? Unmöglich. Ich kannte ihn gut, als ich selbst auf dieser Schule war.«

»Nein, nicht Peterson. Als ich die letzte Klasse besuchte, legte er ein Sabbatjahr ein, und Herr Epstein übernahm seinen Posten.«

»Einen Augenblick, Alfred – gerade fällt mir ein, dass Eugen mir eine Geschichte über dich und Herrn Epstein erzählt hat. Es ging um irgendein Schlamassel, in das du kurz vor deinem Abschluss geraten bist. Was genau ist damals passiert?«

Alfred erzählte Friedrich die ganze Geschichte – von seiner antisemitischen Rede, von Epsteins Wut, von seiner Hingabe für Chamberlain, von der ihm aufgezwungenen Aufgabe, Goethes Bemerkungen über Spinoza zu lesen, und von seinem Versprechen, Spinoza selbst zu lesen.

»Das ist ja eine Geschichte, Alfred! Ich würde diese Kapitel in Goethes Autobiographie gern einmal sehen. Und sag mir: Hast du dein Versprechen eingelöst und Spinoza gelesen?«

»Ich habe es immer wieder versucht, konnte mich aber nicht hineinfinden. So ein abstruses Gefasel. Und die unverständlichen Definitionen und Axiome am Anfang waren ein unüberwindbares Hindernis.«

»Ach, du hast also mit der Ethik begonnen. Ein großer Fehler. Es ist ein schwieriges Werk, wenn man es ohne Anleitung liest. Du hättest mit seiner einfacheren Abhandlung beginnen sollen, dem Theologisch-Politischen Traktat. Spinoza ist ein Ausbund an Logik. Ich habe ihn zusammen mit Sokrates, Aristoteles und Kant in meine Ruhmeshalle gestellt. Eines Tages müssen wir uns im Vaterland wiedersehen, und wenn du willst, werde ich dir dann helfen, die Ethik zu studieren.«

»Wie du dir vorstellen kannst, habe ich ein ziemlich gespanntes Verhältnis zur Lektüre des Werkes dieses Juden. Aber der große Goethe verehrte ihn, und ich gab dem Direktor mein Versprechen, ihn zu lesen. Du könntest mir also helfen, Spinoza zu verstehen? Dein Angebot ist sehr freundlich. Sogar reizvoll. Ich werde mich bemühen, dass sich unsere Wege in Deutschland kreuzen, und ich freue mich darauf, von dir etwas über Spinoza zu lernen.«

»Alfred, ich muss wieder zu meiner Mutter, und wie du weißt, reise ich morgen in die Schweiz ab. Aber ich möchte noch ein Letztes sagen, bevor wir uns trennen. Ich bin in einem gewissen Dilemma. Einerseits bist du mir wichtig, und ich wünsche mir für dich nur das Beste, aber andererseits belasten mich bestimmte Informationen, die dich möglicherweise schmerzen, dich aber, wie ich meine, am Ende zu einigen Wahrheiten über dich selbst führen werden.«

»Wie kann ich mich als Philosoph weigern, die Wahrheit zu verfolgen?«

»Ich habe nichts anderes als eine so großmütige Antwort von dir erwartet, Alfred. Was ich dir sagen muss, ist, dass dein Bruder all die Jahre und auch noch im letzten Monat stundenlang mit mir über die Tatsache diskutierte, dass die Großmutter seiner Mutter – deine Urgroßmutter – Jüdin war. Er sagte, dass er sie einmal in Russland besucht habe und sie, obwohl sie in ihrer Kindheit zum Christentum konvertiert war, ihre jüdischen Vorfahren eingeräumt habe.«

Alfred starrte stumm in die Ferne.

»Alfred?«

»Das bestreite ich entschieden. Das ist ein niederträchtiges Gerücht, das sich schon lange hält, und ich ärgere mich über dich, dass du es verbreitest. Ich bestreite es. Mein Vater bestreitet es. Meine Tanten, die Schwestern meiner Mutter, bestreiten es. Mein Bruder ist ein verwirrter Narr!« Alfreds Gesicht war wutverzerrt. Ohne Friedrichs Blick zu erwidern, fügte er hinzu: »Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb

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