Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,40

»Liegt es nicht im Eigeninteresse eines jeden Philosophen, diese Behauptung aufzustellen?«

»Ja, Alphonse, und Sie sind nicht der erste Denker, der diesen Schluss gezogen hat. Und genau diese Beobachtung leitet uns zu Epikur über, einem weiteren wichtigen griechischen Denker, der sich mit radikal unterschiedlichen Gedanken zur eudaimonia und zur Mission des Philosophen geäußert hat. Wenn Sie in zwei Wochen etwas von Epikur lesen werden, werden Sie feststellen, dass auch er vom guten Leben sprach, dafür aber ein vollkommen anderes Wort benutzte. Er spricht viel von ataraxia, was übersetzt so viel bedeutet wie …«, und wieder hielt van den Enden eine Hand an sein Ohr.

Alphonse meldete sich sofort mit »Stille«, und bald fügten andere »Ruhe« und »Seelenfrieden« hinzu.

»Ja, ja und ja«, sagte van den Enden, der an den Leistungen seiner Klasse offenkundig zunehmend Gefallen fand. »Für Epikur war ataraxia das einzig wahre Glück. Und wie erreichen wir es? Weder durch Platons Harmonie der Seele noch durch Aristoteles’ Erlangen von Vernunft, sondern schlicht durch das Ausschalten von Sorge und Furcht. Sollte Epikur in diesem Augenblick zu Ihnen sprechen, würde er Sie dazu anhalten, Ihr Leben zu vereinfachen. Sollte er heute hier stehen, würde er es etwa so formulieren …«

Van den Enden räusperte sich und sprach in kollegialem Ton: »Ihr jungen Leute, eure Bedürfnisse sind gering, sie sind einfach zu erlangen, und jedes notwendige Leiden kann leicht erduldet werden. Beschwert euer Leben nicht mit trivialen Zielen wie Reichtum und Ruhm: Sie sind die Feinde der ataraxia. Ruhm, zum Beispiel, besteht aus den Meinungen anderer und verlangt, dass wir unser Leben so leben müssen, wie andere es wünschen. Um Ruhm zu erlangen und zu bewahren, müssen wir mögen, was andere mögen, und das meiden, was immer sie meiden. Folglich ein Leben des Ruhms oder ein Leben in der Politik? Nehmt Reißaus davor. Und Reichtum? Meidet ihn! Er ist eine Falle. Je mehr wir erlangen, desto mehr begehren wir, und desto tiefer wird unsere Traurigkeit, wenn unsere Sehnsucht nicht erfüllt wird. Ihr jungen Leute, hört auf mich: Wenn ihr Glückseligkeit begehrt, verschwendet euer Leben nicht damit, um das zu kämpfen, was ihr gar nicht braucht.

Nun«, fuhr van den Enden fort und sprach mit normaler Stimme weiter, »merken Sie sich den Unterschied zwischen Epikur und seinen Vorgängern. Epikur glaubt, das höchste Gut bestehe darin, ataraxia durch Freiheit von aller Furcht zu erlangen. Irgendwelche Kommentare und Fragen dazu? Ah, ja, Herr Spinoza. Eine Frage?«

»Schlägt Epikur nur eine negative Herangehensweise vor? Ich meine, sagt er, dass es nur der Beseitigung aller Drangsal bedarf und dass der Mensch ohne belanglose Sorgen perfekt ist, naturgemäß gut, glücklich? Gibt es keine positiven Attribute, nach denen wir streben sollten?«

»Ausgezeichnete Frage. Und die Literatur, die ich ausgewählt habe, wird seine Antwort erhellen. Glücklicherweise werden Sie, Herr Spinoza, nicht darauf warten müssen, bis Sie Ihr Griechisch perfektioniert haben, denn Sie können die Gedanken Epikurs auf Latein lesen. Der römische Dichter Lucretius, der etwa zweihundert Jahre nach Epikur lebte, schrieb seine Gedanken auf. Ich werde Ihnen die entsprechenden Seiten baldmöglich heraussuchen. Heute wollte ich nur den zentralen Gedanken berühren, der ihn von anderen unterscheidet, dass nämlich das gute Leben aus der Beseitigung von Furcht besteht. Aber selbst ein kleiner Einblick in sein Werk wird zeigen, dass Epikur viel komplexer ist. Er ermuntert zu Erkenntnis, zu Freundschaft und zu einem tugendhaften, gemäßigten Leben. Ja. Dirk, Sie haben eine Frage? Mir scheint, meine Lateinschüler wollen mehr über die Griechen wissen als meine Griechischschüler.«

»In Hamburg«, sagte Dirk, »kenne ich ein Wirtshaus, das ›Die Epikurischen Wonnen‹ heißt. Demnach gehören guter Wein und gutes Bier also auch zu einem guten Leben?«

»Auf diese Frage habe ich gewartet – sie musste kommen. Viele verwenden seinen Namen fälschlicherweise, um auf gutes Essen oder guten Wein hinzuweisen. Wenn Epikur das wüsste, wäre er erstaunt. Ich glaube, dass dieser eigenartige Irrtum von seinem strikten Materialismus herrührt. Er glaubte, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, und da demnach dieses Leben alles ist, was es gibt, sollten wir nach weltlichem Glück streben. Aber unterliegen Sie nicht dem Irrtum, daraus zu folgern, Epikur schlüge vor, wir sollten unser Leben mit sinnlichen oder lustvollen Handlungen verbringen. Ganz und gar nicht – er lebte und verfocht ein fast asketisches Leben. Ich wiederhole: Er glaubte, dass wir ein Maximum an Lebensfreude am besten durch eine Minimierung von Schmerz erlangen können. Eine seiner wichtigsten Schlussfolgerungen war, dass die Furcht vor dem Tod eine der wichtigsten Ursachen von Schmerz ist, und er verbrachte einen großen Teil seines Lebens damit, nach philosophischen Methoden zu suchen, um die Furcht vor dem Tod zu verringern.

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