Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,32

Worte«, sagte Jacob. »Ich wünschte, Ihre Frömmigkeit wäre so groß wie Ihre Merkfähigkeit. Wenn dies Gottes Worte sind, wie kommen Sie dann dazu, daran zu zweifeln, dass wir nach seinem Bilde geschaffen wurden?«

»Jacob, nutzen Sie Ihre von Gott gegebene Vernunft. Wir können solche Worte nicht buchstäblich nehmen. Es sind Metaphern. Glauben Sie wahrhaftig, dass wir Sterbliche – also auch Gehörlose, Krüppel, Elende, an Verstopfung Leidende – nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurden? Denken Sie an Menschen wie meine Mutter, die in ihren Zwanzigern starben, an die blind Geborenen, Deformierten oder Schwachsinnigen mit riesigen Wasserköpfen, an Menschen mit Skrofulose, an jene, deren Lungen versagen und die Blut spucken, an jene, die habgierig oder mordlüstern sind: Sind auch sie Ebenbilder Gottes? Sie glauben, Gott habe eine Mentalität wie die unsere, ließe sich gern umschmeicheln und würde eifersüchtig und rachsüchtig, wenn wir seinen Geboten nicht gehorchen? Könnten solch unreine, verstümmelte Gedankengänge in einem perfekten Wesen vorhanden sein? Das sind nur die Redensarten der Leute, welche die Bibel geschrieben haben.«

»Der Leute, die die Bibel geschrieben haben? Sie sprechen abfällig von Moses, von Josua und von den Propheten und den Richtern? Sie leugnen, dass die Bibel das Wort Gottes ist?« Jacobs Stimme wurde mit jedem Satz lauter, und Franco, der jedes Wort Bentos aufmerksam verfolgte, legte ihm eine Hand auf den Arm, um ihn zu beruhigen.

»Ich spreche von niemandem abfällig«, sagte Bento. »Diese Schlussfolgerung entstand in Ihrem Kopf. Aber ich sage tatsächlich, dass die Worte und Gedanken der Bibel dem menschlichen Geist entsprangen, dass sie von den Männern kommen, welche diese Abschnitte schrieben und sich vorstellten – nein, besser gesagt, sich wünschten, sie wären Gott ähnlich, sie wären nach dem Ebenbild Gottes geschaffen worden.«

»Sie leugnen also, dass Gott durch die Stimmen der Propheten spricht?«

»Es ist offensichtlich, dass alle Worte in der Bibel, die sich auf das ›Wort Gottes‹ beziehen, nur der Phantasie der verschiedenen Propheten entspringen.«

»Phantasie! Sie sagen Phantasie?« Jacob schlug erschreckt die Hand vor seinen Mund, während Franco versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.

Bento wusste, dass jede seiner Äußerungen Jacob empörte, doch er schaffte es nicht, sich zurückzuhalten. Er war in Hochstimmung, endlich wollte er die Ketten seines Schweigens sprengen und alle Ideen geradeheraus aussprechen, die er im Geheimen ersonnen oder dem Rabbiner nur in sorgfältig verschleierter Form mitgeteilt hatte. Van den Endens Warnung »caute, caute« fiel ihm ein, doch ausnahmsweise hörte er nicht auf seine Vernunft und preschte weiter vor.

»Ja, es ist offensichtlich Phantasie, Jacob, und seien Sie nicht so entsetzt: Das steht ausdrücklich in der Thora.« Aus den Augenwinkeln registrierte Bento ein Lächeln auf Francos Gesicht. Bento fuhr fort: »Hier, Jacob, lesen Sie diesen Abschnitt mit mir aus dem 5. Buch Moses, 34:10: ›Und es stund hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose, den der HERR erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht.‹ Nun, Jacob, überlegen Sie, was das bedeutet. Sie wissen natürlich, dass die Thora uns berichtet, dass nicht einmal Moses das Angesicht Gottes erblickt hat. Richtig?«

Jacob nickte: »Ja, so steht es in der Thora.«

»Nun, Jacob, wir haben die Anschauung Gottes ausgeschlossen, und das muss bedeuten, dass Moses Gottes wirkliche Stimme hörte und dass kein Prophet nach Moses seine wirkliche Stimme gehört hat.«

Jacob hatte keine Antwort.

»Erklären Sie mir«, bat Franco, der aufmerksam jedes Wort Bentos verfolgt hatte. »Wenn keiner der anderen Propheten die Stimme Gottes hörte, woher stammen dann die Prophezeiungen?«

Bento, der sich über Francos Mitarbeit freute, antwortete sofort: »Ich glaube, dass die Propheten mit einer ungewöhnlich lebhaften Vorstellungskraft, aber nicht unbedingt mit einem hoch entwickelten logischen Denkvermögen ausgestattet waren.«

»Dann glauben Sie also, Bento«, sagte Franco, »dass wundertätige Prophezeiungen nichts anderes sind als eingebildete Ansichten der Propheten?«

»Ganz genau.«

Franco fuhr fort: »Es ist, als gäbe es nichts Übernatürliches. Sie lassen es so aussehen, als sei alles erklärbar.«

»Das ist genau das, was ich glaube. Alles, und damit meine ich wirklich alles, hat eine natürliche Ursache.«

»Was mich betrifft«, sagte Jacob, der Bento wütend angefunkelt hatte, als er über die Propheten sprach, »gibt es Dinge, die nur Gott weiß, Dinge, deren Ursache nur im Willen Gottes liegen.«

»Je mehr Wissen wir erlangen können, desto weniger wird nur Gott allein bekannt sein. Mit anderen Worten: Je größer unser Unwissen ist, desto mehr schreiben wir Gott zu.«

»Wie können Sie es wagen …«

»Jacob«, unterbrach Bento. »Lassen Sie uns darauf zurückkommen, weshalb wir drei hier zusammensitzen. Sie kamen zu mir, weil Franco sich in einer spirituellen Krise befand und Hilfe brauchte. Ich habe Sie mir nicht ausgesucht – in Wahrheit riet ich Ihnen, lieber den Rabbiner zu konsultieren. Sie sagten, Ihnen sei zugetragen worden, dass der Rabbiner den Zustand Francos nur

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