Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,27

hatte es so sehr geschätzt, dass er es ein geschlagenes Jahr lang mit sich herumgetragen hatte. Dieser obskure jüdische Unsinn hatte Goethes ungebärdige Leidenschaften besänftigt und ihm eine klarere Weltsicht als je zuvor ermöglicht. Wie konnte das sein? Goethe sah etwas darin, was er selbst nicht erkennen konnte. Vielleicht würde er eines Tages den Lehrer finden, der ihm das erklären konnte.

Die tumultartigen Ereignisse des Ersten Weltkriegs rückten dieses Rätsel bald aus seinem Bewusstsein. Nachdem er den Abschluss an der Oberschule in Reval gemacht und sich von Direktor Epstein, Herrn Schäfer und seinem Kunstlehrer, Herrn Purvit, verabschiedet hatte, begann Alfred sein Studium am Polytechnischen Institut in Riga, Lettland, das ungefähr dreihundert Kilometer von seiner Heimatstadt Reval entfernt lag. Als die deutschen Truppen 1915 Estland und auch Lettland bedrohten, wurde das komplette Polytechnische Institut nach Moskau verlegt, wo Alfred bis 1918 lebte. Im selben Jahr legte er seine Abschlussarbeit vor – einen architektonischen Entwurf für ein Krematorium – und erhielt sein Diplom für Architektur und Ingenieurwesen.

Obwohl seine akademische Arbeit herausragend war, fühlte sich Alfred im Ingenieurwesen nie zu Hause und zog es stattdessen vor, seine Zeit mit der Lektüre von mythologischen Themen und Romanen zu verbringen. Er war fasziniert von den Erzählungen der nordischen Mythologie in der Edda und auch von den verwickelt konstruierten Romanen Dickens’ und den monumentalen Werken Tolstois (die er auf Russisch las). Er versuchte es mit Philosophie, überflog die wichtigsten Gedanken von Kant, Schopenhauer, Fichte, Nietzsche und Hegel und las wie früher mit Vergnügen philosophische Arbeiten bevorzugt an belebten, öffentlichen Plätzen.

Im Chaos der Russischen Revolution von 1917 empörte sich Alfred beim Anblick der Hunderttausende von aufgebrachten Demonstranten, die auf die Straße gingen und den Umsturz der bestehenden Ordnung forderten. Auf Grundlage von Chamberlains Werk glaubte er inzwischen, dass Russland alles dem arischen Einfluss zu verdanken hätte, namentlich den Wikingern, der Hanse und deutschen Immigranten, wie er selbst einer war. Der Zusammenbruch der russischen Zivilisation konnte nur eines bedeuten: Die nordischen Fundamente wurden von den minderwertigen Rassen – von den Mongolen, den Juden, den Slawen und den Chinesen – zum Einsturz gebracht, und die Seele des wahren Russland wäre bald schon verloren. Sollte dieses Schicksal auch das Vaterland ereilen? Würde rassisches Chaos und Degeneration auch nach Deutschland selbst überschwappen?

Der Anblick der wogenden Menschenmassen widerte ihn an. Die Bolschewiken waren Tiere, deren Mission darin bestand, die Zivilisation zu vernichten. Er informierte sich über ihre Führer und gelangte bald zu der Überzeugung, dass mindestens neunzig Prozent dieser Leute Juden waren. Von 1918 an sprach Alfred selten von den Bolschewiken: Immer waren es die »jüdischen Bolschewiken«, und dieses doppelte Epithet sollte später in die Nazi-Propaganda einfließen. Nach seinem Diplom im Jahr 1918 war Alfred außer sich vor Freude, als er den Zug bestieg, der ihn quer durch Russland und zurück in seine Heimatstadt Reval brachte. Während der Zug westwärts schnaufte, saß er Tag um Tag am Fenster und starrte auf die endlosen, russischen Weiten. Fasziniert von diesem unendlichen freien Raum – ach ja, der Raum –, dachte er an Houston Stewart Chamberlains Wunsch nach mehr Lebensraum für das Vaterland. Hier, vor seinem Zugfenster der zweiten Klasse, lag der Lebensraum, den Deutschland so dringend brauchte, und doch machte allein die unendliche Weite Russlands diesen Lebensraum uneinnehmbar, es sei denn … es sei denn, ein Heer russischer Kollaborateure würde Seite an Seite mit dem Vaterland kämpfen. Das Samenkorn eines weiteren Gedankens schlug Wurzeln: Diese unwirtliche, offene Ebene – was sollte man damit anfangen? Warum nicht die Juden dorthin verfrachten, alle Juden Europas?

Das Pfeifen der Lokomotive und das Anziehen und Lösen der Bremsen signalisierten ihm, dass er zu Hause angekommen war. In Reval war es so kalt wie in Russland. Er zog alle Pullover über, die er besaß, knotete sich den Schal fest um den Hals und spazierte im weißen Hauch seines eigenen Atems – das Gepäck in der Hand, das Diplom in der Tasche – die vertrauten Straßen entlang, bis er vor der Tür des Hauses seiner Kindheit stand, dem Anwesen Tante Cäcilies, der Schwester seines Vaters. Auf sein Klopfen hin wurde er mit lauten Rufen »Alfred! Alfred!«, strahlenden Gesichtern, männlichem Händeschütteln und weiblicher Umarmung empfangen. Schnell führte man ihn in die warme, duftende Küche, wo Kaffee und Streuselkuchen aufgetragen wurden. Augenblicklich schickten sie einen kleinen Neffen los, der Tante Lydia holen sollte, die ein paar Türen weiter die Straße hinunter wohnte. Kurze Zeit später tauchte sie auf, beladen mit Essen für ein großes Festmahl.

Sein Zuhause war überwiegend so, wie er es in Erinnerung hatte, und ein solches Festhalten an Altbewährtem verschaffte Alfred eine

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