Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,23

seiner Stelle: »Natürlich nicht. Wie Sie selbst gerade sagten, ist Hebräisch in Portugal nicht erlaubt. Wir alle lernen die Heilige Schrift auf Latein zu lesen.«

»Sie können also kein Hebräisch, Franco?«

Abermals schaltete Jacob sich ein: »In Portugal wagt es niemand, Hebräisch zu unterrichten. Er müsste nicht nur selbst mit seiner sofortigen Hinrichtung rechnen, sondern die Häscher würden auch auf seine ganze Familie Jagd machen. Während wir hier sitzen und miteinander sprechen, halten sich Francos Mutter und zwei seiner Schwestern in einem Versteck auf.«

»Franco …«, Bento beugte sich vor und sah ihm direkt in die Augen, »Jacob antwortet immer an Ihrer Stelle. Warum wollen Sie nicht selbst antworten?«

»Er versucht nur, mir zu helfen«, flüsterte Franco.

»Und Ihnen ist geholfen, wenn Sie selbst schweigen?«

»Ich bin zu aufgewühlt, um meinen Worten trauen zu können«, sagte Franco lauter. »Jacob sagt die Wahrheit. Meine Familie ist in Gefahr, und wie er sagt, habe ich abgesehen vom aleph, bet, gimmel, das er mich lehrte, keine jüdische Ausbildung genossen. Er schrieb die Buchstaben immer in den Sand. Und selbst diese musste er anschließend mit den Füßen sorgfältig verwischen.«

Bento drehte seinen Körper vollends zu Franco und damit bewusst von Jacob fort: »Sind Sie auch der Ansicht, dass der Gottesdienst Sie aufgewühlt hat, während Jacob sich danach erfrischt fühlte?«

Franco nickte.

»Und Sie waren weswegen aufgewühlt?«

»Wegen Zweifeln und Gefühlen.« Franco warf einen verstohlenen Blick zu Jacob. »So starke Gefühle, dass ich Angst habe, sie zu beschreiben. Nicht einmal Ihnen gegenüber.«

»Vertrauen Sie darauf, dass ich Ihre Gefühle verstehe und nicht beurteilen werde.«

Franco senkte den Kopf. Er zitterte.

»Was für eine Furcht«, bemerkte Bento und fuhr dann fort: »Ich will versuchen, Sie zu beruhigen. Zunächst wollen wir überlegen, ob Ihre Angst vernünftig ist.«

Franco verzog das Gesicht und sah Spinoza verwirrt an.

»Wir wollen feststellen, ob Ihre Angst begründet ist. Betrachten Sie diese beiden Fakten: Erstens stelle ich keine Bedrohung dar. Ich gebe Ihnen mein Versprechen, Ihre Worte niemals öffentlich zu machen. Außerdem zweifle ich ebenfalls an vielen Dingen. Möglicherweise teile ich sogar manche Ihrer Gefühle. Und zweitens droht hier in Holland keine Gefahr; hier gibt es keine Inquisition. Weder in diesem Laden hier noch in dieser Gemeinde, auch nicht in dieser Stadt und nicht einmal in diesem Land. Amsterdam ist seit vielen Jahren von der iberischen Halbinsel unabhängig. Das wissen Sie doch, oder?«

»Ja«, antwortete Franco zaghaft.

»Und trotzdem verhält sich ein Teil Ihrer Seele, den Sie nicht unter Kontrolle haben, so, als drohte eine große, unmittelbare Gefahr. Ist es nicht bemerkenswert, wie gespalten unsere Seele ist? Wie sehr unsere Vernunft, der vornehmste Teil unserer Seele, von unseren Emotionen geknechtet wird?«

Franco zeigte sich nicht beeindruckt.

Bento zögerte. Er empfand sowohl wachsende Ungeduld als auch das Gefühl, einen Auftrag, ja fast eine Pflicht erfüllen zu müssen. Aber wie fortfahren? Erwartete er von Franco zu viel zu schnell? Er rief sich viele Gelegenheiten ins Gedächtnis, als seine eigene Vernunft nicht in der Lage gewesen war, seine Ängste zu bezwingen. Erst am vorhergehenden Abend war es so gewesen, als er gegen den Strom der Menschen gegangen war, die auf dem Weg zum Sabbat-Gottesdienst in der Synagoge waren.

Schließlich beschloss er, seinen einzigen verfügbaren Hebel anzusetzen, und sagte so einfühlsam, wie er konnte: »Sie baten mich darum, Ihnen zu helfen. Ich war damit einverstanden. Aber wenn Sie meine Hilfe möchten, müssen Sie mir vertrauen. Sie müssen mir helfen, Ihnen zu helfen. Verstehen Sie?«

»Ja«, sagte Franco und seufzte.

»Nun, dann besteht Ihr nächster Schritt darin, Ihre Ängste auszusprechen.«

Franco schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Sie sind so schrecklich. Und sie sind gefährlich.«

»Nicht zu schrecklich, um dem Lichte der Vernunft zu widerstehen. Und ich zeigte Ihnen gerade, dass sie nicht gefährlich sind, wenn nichts zu befürchten ist. Nur Mut! Jetzt ist die Zeit, sich ihnen zu stellen. Wenn Sie es nicht tun, dann sage ich Ihnen nochmals« – Bentos Stimme wurde eindringlich –, »dass es keinen Sinn hat, dass wir uns noch einmal treffen.«

Franco holte tief Luft und begann: »Heute in der Synagoge hörte ich die Rezitationen der Heiligen Schrift in einer fremden Sprache. Ich verstand nichts …«

»Aber Franco«, unterbrach Jacob, »natürlich hast du nichts verstanden. Ich sage dir immer wieder, dass dieses Problem ein vorübergehendes ist. Der Rabbi erteilt Hebräischunterricht. Geduld, Geduld.«

»Und ich sage dir immer wieder«, schoss Franco zurück, und in seine Stimme mischte sich nun Wut, »dass es nicht nur die Sprache ist. Höre mir nur einmal zu! Es ist das ganze Spektakel. Heute Morgen in der Synagoge schaute ich mich um und sah alle mit ihren kostbar bestickten Scheitelkäppchen, den blauen und weißen Gebetsschals mit den Fransen, ich sah, wie sie ihre Köpfe wie

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