Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,18

mit mir. Sie machen dich nicht für die Verirrungen deines älteren Bruders verantwortlich.«

Gabriel verließ kopfschüttelnd das Zimmer und murmelte: »Mein älterer Bruder redet wie ein Kind.«

6

ESTLAND, 1910

Drei Tage später ersuchte ein blasser und hektischer Alfred um eine Unterredung mit Herrn Schäfer.

»Ich habe ein Problem, Herr Professor«, begann Alfred, öffnete seine Schultasche und entnahm ihr Goethes siebenhundertseitige Autobiographie. Zwischen den Blättern ragten mehrere ausgefranste Papierstreifen heraus. Er schlug die erste markierte Stelle auf und deutete auf den Text.

»Herr Professor, Goethe erwähnt Spinoza hier in dieser Zeile. Und dann wieder hier, ein paar Zeilen weiter unten. Aber dann kommen mehrere Absätze, in denen der Name nicht aufscheint, und ich komme einfach nicht dahinter, ob es darin um ihn geht oder nicht. Eigentlich verstehe ich fast nichts davon. Es ist sehr mühsam.« Er blätterte weiter und zeigte auf einen weiteren Abschnitt: »Hier ist es das Gleiche. Er erwähnt Spinoza zwei oder drei Mal, dann kommen vier Seiten, ohne dass er erwähnt wird. Soweit ich es beurteilen kann, ist es nicht klar ersichtlich, ob er über Spinoza spricht oder nicht. Er spricht auch über jemanden namens Jacobi. Und das kommt noch an vier anderen Stellen vor. Ich habe den Faust verstanden, als wir ihn in Ihrem Unterricht durchnahmen, und ich habe Die Leiden des jungen Werther verstanden, aber hier in diesem Buch verstehe ich Seite um Seite rein gar nichts.«

»Chamberlain zu lesen ist da schon viel einfacher, was?« Augenblicklich bedauerte Herr Schäfer seinen Sarkasmus und beeilte sich, mit freundlicherer Stimme hinzuzufügen: »Mir ist bewusst, dass du vielleicht nicht den ganzen Text von Goethe begreifst, Rosenberg, aber du musst dir klarmachen, dass das hier kein straff organisiertes Werk ist, sondern eine Abfolge von Betrachtungen über sein Leben. Hast du jemals ein Tagebuch geführt oder über dein eigenes Leben geschrieben?«

Alfred nickte. »Vor ein paar Jahren, aber nur ein paar Monate lang.«

»Nun, dann betrachte es als so etwas wie ein Tagebuch. Goethe hat es gleichermaßen für sich selbst geschrieben wie auch für den Leser. Glaube mir, wenn du älter bist und Goethes Gedankenwelt besser kennst, wirst du seine Texte besser verstehen und würdigen können. Gib mir das Buch.«

Nachdem er die Seiten überflogen hatte, die Alfred markiert hatte, sagte Herr Schäfer: »Ich verstehe das Problem. Du schneidest eine legitime Frage an, und ich muss die Aufgabe überdenken. Gehen wir diese beiden Kapitel gemeinsam durch.« Herr Schäfer und Alfred steckten die Köpfe zusammen und brüteten lange über dem Text. Herr Schäfer notierte verschiedene Seitenzahlen und Zeilennummern auf einem Notizblock.

Er gab Alfred den Notizblock und sagte: »Das hier musst du abschreiben. Denke daran: drei Exemplare, leserlich geschrieben. Aber es gibt ein Problem: Das hier sind nur zwanzig oder fünfundzwanzig Zeilen, eine so viel kürzere Aufgabe, als der Herr Direktor ursprünglich vorgesehen hatte, und ich bezweifle, dass er sich damit begnügen wird. Du musst also zusätzlich etwas tun – lerne diese gekürzte Fassung auswendig und trage sie bei unserem Gespräch mit Direktor Epstein vor. Ich glaube, damit wird er sich zufrieden geben.«

Als Herr Schäfer daraufhin Alfreds finsteren Blick registrierte, setzte er hinzu: »Alfred, auch wenn es mir nicht gefällt, dass du dich so verändert hast – damit meine ich diesen Unsinn mit der Überlegenheit der Rasse –, stehe ich nach wie vor auf deiner Seite. Die vergangenen vier Jahre warst du immer ein guter und gehorsamer Schüler, auch wenn du – und das habe ich dir oft gesagt – durchaus fleißiger hättest sein können. Es wäre eine Tragödie, wenn du deine Chancen für die Zukunft verspielen und ohne Abschluss von der Schule gehen würdest.« Er ließ Alfred Zeit, die Worte zu verdauen. »Lege dein ganzes Herzblut in diese Aufgabe. Herr Direktor Epstein wird mehr erwarten, als nur Abschriften und auswendig gelernten Text. Er wird von dir erwarten, dass du die Lektüre verstanden hast. Also streng dich an, Rosenberg. Was mich betrifft, so möchte ich wirklich, dass du den Abschluss machst.«

»Und wollen Sie noch immer mein Exemplar haben, bevor ich die anderen zwei Abschriften mache?«

Herr Schäfer spürte einen Stich in der Brust, als er Alfreds mechanische Antwort hörte, sagte aber nur: »Wenn du meine Anweisungen auf dem Notizblock befolgst, wird das nicht nötig sein.«

Alfred ging davon, aber Herr Schäfer rief ihn noch einmal zurück: »Rosenberg, gerade eben versuchte ich, dir die Hand zu reichen. Ich sagte, du seist ein guter Schüler und ich würde mir wünschen, dass du den Abschluss machst. Hast du darauf keine Antwort? Immerhin bin ich seit vier Jahren dein Lehrer.«

»Ja, Herr Professor.«

»Ja, Herr Professor?«

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Schon gut, Alfred, du kannst gehen.«

Herr Schäfer packte seine

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