Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,13

Direktor schenkte Tee nach. »Nun, unser junger Rosenberg scheint von Chamberlains Rassismus so eingenommen zu sein, dass es nicht ganz leicht sein dürfte, ihn wieder davon zu befreien. Aber ehrlich gesagt: Welcher unbeliebte, einsame, einigermaßen unbeholfene Heranwachsende würde nicht vor Vergnügen schnurren, wenn er erfährt, dass er von überlegener Herkunft ist? Dass seine Vorfahren die großen Zivilisationen begründet haben? Und erst ein Junge, der nie eine Mutter hatte, die ihn bewunderte, dessen Vater todkrank ist, dessen älterer Bruder kränkelt, der …«

»Ach, Karl, aus dir spricht dein Visionär, dieser Wiener Doktor Freud, der ebenfalls mit großer Überzeugungskraft schreibt, der ebenfalls in die klassische Geschichte eintaucht und niemals ohne ein köstliches Zitat wieder auftaucht.«

»Mea culpa. Ich muss zugeben, dass seine Gedanken mir zunehmend sinnvoller erscheinen. Beispielsweise sagtest du gerade, dass hunderttausend Exemplare des antisemitischen Buches von Chamberlain verkauft wurden. Wie viele von den Heerscharen von Lesern werden ihn wie du ablehnen? Und wie viele werden sich wie Rosenberg von ihm mitreißen lassen? Weshalb ruft ein und dasselbe Buch so breitgestreute Reaktionen hervor? Ein Leser muss irgendetwas Bestimmtes an sich haben, was bewirkt, dass er dieses Buch mit offenen Armen empfängt. Sein Leben, seine Psychologie, sein Bild von sich selbst. Es muss etwas sein, das tief in seiner Seele schlummert – oder wie dieser Freud es nennt, das Unbewusste –, das einen bestimmten Leser dazu bringt, einem bestimmten Schriftsteller zu verfallen.«

»Ein kerniges Thema für unsere nächste Diskussion beim Abendessen! Inzwischen wird sich mein kleiner Rosenberg da draußen vermutlich Sorgen machen und schwitzen. Was sollen wir mit ihm machen?«

»Ja, diskutieren können wir noch später. Wir haben ihm Hausarbeiten angekündigt und müssen uns nun welche überlegen. Vielleicht schießen wir ja über das Ziel hinaus. Besteht überhaupt der Hauch einer Chance, dass wir ihm eine Hausaufgabe geben, die in den paar Wochen, die uns noch bleiben, einen positiven Einfluss auf ihn ausüben könnte? Ich stelle bei ihm eine solche Bitterkeit fest, einen solchen Hass auf alle außer seinem Hirngespinst des ›wahren Deutschen‹. Ich glaube, wir müssen ihn von seinen Ideen abbringen und zu etwas Greifbarem hinführen, etwas, das er anfassen kann.«

»Einverstanden. Es ist schwieriger, eine Einzelperson als eine Rasse zu hassen«, sagte Herr Schäfer. »Ich habe eine Idee. Ich kenne einen bestimmten Juden, an dem ihm etwas liegen muss. Rufen wir ihn herein, und ich werde ihn damit ködern.«

Direktor Epsteins Sekretärin räumte das Teegeschirr ab und holte Alfred herein, der auf seinem Stuhl am Ende des Tisches Platz nahm.

Herr Schäfer stopfte bedächtig seine Pfeife, zündete sie an und stieß eine Rauchwolke aus. Dann begann er: »Rosenberg, wir haben noch ein paar Fragen. Ich bin mir deiner Gefühle zu Juden unter allgemeinen rassischen Gesichtspunkten bewusst, aber gewiss haben sich deine Wege auch mit großartigen Juden gekreuzt. Zufällig weiß ich, dass du und ich denselben Hausarzt haben, nämlich Herrn Apfelbaum. Wie ich hörte, hat er dich auf die Welt geholt.«

»Ja«, sagte Alfred. »Er ist schon mein ganzes Leben lang mein Arzt.«

»Und seit Jahren ist er auch ein sehr guter Freund von mir. Sag mir, ist er bösartig? Ist er ein Parasit? Niemand in Reval arbeitet härter als er. Als du noch ein Baby warst, habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass er Tag und Nacht gearbeitet und versucht hat, deine Mutter von der Tuberkulose zu heilen. Und ich hörte, dass er bei ihrer Beerdigung geweint hat.«

»Dr. Apfelbaum ist ein guter Mann. Er kümmert sich immer sehr um uns. Übrigens bezahlen wir ihn immer dafür. Aber es kann auch gute Juden geben. Das weiß ich. Ich spreche nicht schlecht über ihn als Menschen, sondern nur über die jüdische Saat. Es ist unbestreitbar, dass alle Juden die Saat einer verhassten Rasse in sich tragen und dass …«

»Schon wieder dieses Wort ›verhasst‹«, warf Direktor Epstein ein, um Fassung bemüht. »Ich höre eine ganze Menge über Hass, Rosenberg, aber ich höre gar nichts über Liebe. Vergiss nicht, dass die Liebe der Kern der Botschaft Jesu ist. Nicht nur Gott sollst du lieben, sondern auch deinen Nächsten wie dich selbst. Siehst du keinen Widerspruch zwischen dem, was du bei Chamberlain liest, und dem, was du jede Woche in der Kirche über die christliche Liebe hörst?«

»Ich gehe nicht jede Woche in die Kirche, Herr Direktor. Ich gehe da nicht mehr hin.«

»Und was sagt dein Vater dazu? Was würde Chamberlain dazu sagen?«

»Mein Vater sagt, dass er noch nie einen Fuß in die Kirche gesetzt hat. Und ich habe gelesen, das Chamberlain und auch Wagner behaupten, dass die Lehren der Kirche uns eher schwächen als stärken.«

»Du liebst unseren Herrn Jesus nicht?«

Alfred schwieg. Überall vermutete er Fallstricke.

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