Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,110

könnte ich den vergessen?«

»Seit damals habe ich Herrn Rosenberg nicht mehr getroffen. Nur ein paar Briefe gewechselt. Aber hier habe ich die gestrige Ausgabe seiner Zeitung des Völkischen Beobachters. Sehen Sie sich nur diese Schlagzeile an:

KINDESMISSBRAUCH IN WIENER BORDELL

VIELE JUDEN BETEILIGT

Dr. Abraham warf einen Blick auf die Schlagzeile, schüttelte angewidert den Kopf und fragte: »Und die Protokolle – haben Sie die gelesen?«

»Nur einige Auszüge und ein paar Kritiken, die sie als Fälschung apostrophieren.«

»Eine offensichtliche Fälschung, aber eine gefährliche. Und ich habe keinen Zweifel, dass Ihr Patient Rosenberg das auch wusste. Vertrauenswürdige jüdische Gelehrte in meiner Gemeinde erzählen mir, dass die Protokolle von Sergei Nilus, einem verrufenen russischen Schriftsteller, ausgeheckt wurden, der den Zaren davon überzeugen wollte, dass die Juden Russland zu dominieren versuchten. Nachdem der Zar die Protokolle gelesen hatte, ordnete er eine Reihe blutiger Pogrome an.«

»Nun«, sagte Friedrich, »meine Frage ist: Wie kann ich eine Therapie mit einem Patienten machen, der derart abscheuliche Taten begeht? Ich weiß, dass er gefährlich ist. Wie gehe ich mit meiner Gegenübertragung um?«

»Ich ziehe es vor, Gegenübertragung als die neurotische Reaktion des Therapeuten auf den Patienten zu betrachten. In diesem Fall haben Ihre Gefühle eine rationale Grundlage. Damit wäre die korrekte Frage: ›Wie arbeitet man mit jemandem, der, vom objektiven Standard aus betrachtet, ein widerwärtiger, bösartiger Mensch ist, der viel Unheil anrichten kann?‹«

Friedrich sann über die Worte seines Supervisors nach. »Widerwärtig, bösartig. Starke Worte.«

»Sie haben Recht, Herr Dr. Pfister – das waren meine Begriffe, nicht die Ihren, und ich glaube, Sie spielen richtigerweise auf ein anderes Thema an – die Gegenübertragung des Supervisors –, die mit meiner Fähigkeit, Sie zu unterrichten, kollidieren könnte. Da ich selbst Jude bin, ist es mir unmöglich, diesen hochgefährlichen, antisemitischen Menschen persönlich zu behandeln, aber vielleicht könnte ich Ihnen trotzdem als Supervisor nützlich sein. Erzählen Sie mir mehr über Ihre Gefühle ihm gegenüber.«

»Obwohl ich kein Jude bin, stößt mich sein Antisemitismus persönlich ab. Schließlich sind die Menschen, die mir hier am nächsten stehen, fast alles Juden – mein Analytiker, Sie und die meisten Leute der Fakultät des Instituts.« Friedrich nahm Alfreds Brief zur Hand. »Sehen Sie. Er schreibt voller Stolz über seinen beruflichen Aufstieg und erwartet, dass ich mich darüber freue. Aber ich fühle mich im Gegenteil zunehmend von ihm angegriffen und ängstige mich um Sie, um alle zivilisierten Deutschen. Ich glaube, dass er böse ist. Und sein Idol, dieser Hitler, mag sogar die Inkarnation des Teufels sein.«

»Das ist die eine Seite. Aber in Ihnen gibt es noch eine andere Seite, die ihn gerne wiedersehen möchte. Warum?«

»Es ist das, worüber wir schon einmal diskutiert haben – mein intellektuelles Interesse daran, jemanden zu analysieren, der die gleiche Vergangenheit hat wie ich. Ich kenne seinen Bruder schon mein ganzes Leben lang. Ich kannte Alfred schon, als er noch ein kleines Kind war.«

»Aber, Dr. Pfister, es liegt doch auf der Hand, dass Sie niemals die Gelegenheit haben werden, ihn zu analysieren. Schon allein die Entfernung macht das unmöglich. Bestenfalls treffen Sie ihn in großen, unregelmäßigen Abständen zu einer Sitzung und werden niemals gründliche archäologische Arbeiten in seiner Vergangenheit durchführen können.«

»Richtig. Diese Idee muss ich fallen lassen. Es muss andere Gründe geben.«

»Ich erinnere mich, dass Sie einmal von Ihrem Eindruck einer ausradierten Vergangenheit sprachen. Es gibt nur noch Ihren guten Freund, den Bruder. Ich habe seinen Namen vergessen …«

»Eugen.«

»Ja. Nur Eugen Rosenberg ist übriggeblieben und zu einem viel geringeren Teil Eugens jüngerer Bruder Alfred, mit dem Sie nie eng befreundet waren. Ihre Eltern sind tot, es gibt keine Geschwister, Sie haben keine anderen Verbindungen zu Ihrem früheren Leben – weder Menschen noch Orte. Mir scheint, Sie wollen das Älterwerden oder die Vergänglichkeit leugnen, indem Sie nach etwas Unvergänglichem suchen. Damit beschäftigen Sie sich doch hoffentlich in Ihrer persönlichen Analyse?«

»Noch nicht. Aber Ihre Bemerkungen sind hilfreich. Ich kann die Zeit nicht dadurch anhalten, dass ich mich an Eugen oder Alfred klammere. Ja, Dr. Abraham, Sie stellen klar, dass meine Treffen mit Alfred meinen inneren Konflikten in keiner Weise dienlich sind.«

»Das ist so wichtig, Dr. Pfister, dass ich es wiederhole: Ihre Treffen mit Alfred Rosenberg sind Ihren inneren Konflikten in keiner Weise dienlich. Das richtige Forum dafür ist Ihre eigene Analyse. Richtig?«

Friedrich nickte resigniert.

»Deshalb frage ich Sie noch einmal: Warum wollen Sie sich mit ihm treffen?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich stimme Ihnen zu, dass er ein gefährlicher Mann ist, der Hass verbreitet. Und dennoch sehe ich in ihm immer noch den kleinen Nachbarjungen und nicht den Mann, der böse ist. Ich betrachte ihn als fehlgeleitet, nicht als dämonisch. Er glaubt tatsächlich an diesen rassistischen

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