Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,11

und Sklaven«. Er fuhr fort: »Bedenken Sie die paradoxe Stellung der Frau im griechischen Drama: Auf der einen Seite war es den Frauen überhaupt verboten, Aufführungen zu besuchen, und erst in späteren, aufgeklärteren Jahrhunderten wurden sie zwar in die Amphitheater vorgelassen, durften aber nur auf den Plätzen mit der schlechtesten Sicht sitzen. Und betrachten Sie auf der anderen Seite die Heldinnen im Drama – stahlharte Frauen, die Protagonistinnen der bedeutendsten Tragödien von Sophokles und Euripides. Ich will Ihnen drei der eindrucksvollsten Gestalten in der ganzen Literatur nennen: Antigone, Phaedra und Medea.«

Nach seiner Präsentation, während der er Clara Maria anwies, einige der stärksten Passagen Antigones auf Griechisch und Holländisch vorzulesen, bat er, nachdem die anderen gegangen waren, Bento darum, noch ein paar Minuten zu bleiben.

»Ich möchte ein paar Dinge mit Ihnen besprechen, Bento. Zum einen: Erinnern Sie sich doch noch an mein Angebot bei unserem ersten Treffen in Ihrem Geschäft? Mein Angebot, Sie mit gleichgesinnten Denkern bekanntzumachen?« Bento nickte, und van den Enden fuhr fort: »Ich habe es nicht vergessen, und ich werde mein Versprechen nun nach und nach einlösen. Ihre Fortschritte in Latein sind ausgezeichnet, und wir werden uns nun der Sprache des Sophokles und des Homer zuwenden. Nächste Woche wird Clara Maria mit dem griechischen Alphabet beginnen. Außerdem habe ich Texte ausgewählt, die Sie besonders interessieren dürften. Wir werden mit Abschnitten von Aristoteles und Epikur arbeiten, die sich auf genau die Themen beziehen, für die Sie bei unserer ersten Begegnung Interesse bekundet haben.«

»Sie meinen meine Einträge im Kassenbuch über vergängliche und unvergängliche Ziele?«

»Ganz genau. Als einen ersten Schritt, Ihr Latein zu perfektionieren, schlage ich vor, dass Sie Ihre Einträge ab sofort in dieser Sprache vornehmen.«

Bento nickte.

»Und noch eins«, fuhr van den Enden fort. »Clara Maria und ich sind nun so weit, unter Ihrer Anleitung Hebräisch zu lernen. Wäre es Ihnen angenehm, nächste Woche damit zu beginnen?«

»Sehr gerne«, gab Bento zur Antwort. »Es wäre mir eine große Freude und böte mir außerdem die Möglichkeit, meine große Schuld an Sie zurückzuzahlen.«

»Nun, dann sollten wir vielleicht über pädagogische Methoden nachdenken. Haben Sie Erfahrung im Unterrichten?«

»Vor drei Jahren bat mich Rabbi Mortera, ihm bei seinem Hebräischunterricht für die jüngeren Schüler zu assistieren. Ich habe mir viele Gedanken zu den Fallstricken der hebräischen Sprache aufgeschrieben und hoffe, eines Tages eine hebräische Grammatik zu verfassen.«

»Ausgezeichnet. Seien Sie versichert, dass Sie eifrige und aufmerksame Schüler haben werden.«

»Wie der Zufall es will«, fügte Bento hinzu, »wurde heute Nachmittag eine seltsame Anfrage nach pädagogischer Hilfe an mich herangetragen. Vor ein paar Stunden suchten mich zwei verzweifelte Männer auf und versuchten, mich als eine Art Berater zu gewinnen.« Bento erzählte von seinem Zusammentreffen mit Jacob und Franco.

Van den Enden lauschte gespannt, und als Bento geendet hatte, sagte er: »Ich werde ein weiteres Wort zu den Lateinvokabeln hinzufügen, die ich Ihnen heute als Hausaufgabe gegeben habe. Notieren Sie bitte: caute. Die Bedeutung können Sie von dem spanischen Wort cautela ableiten.«

»Ja, das heißt ›Vorsicht‹ – cautela auf Portugiesisch. Aber warum caute?«

»Auf Lateinisch bitte.«

»Sed cur caute?«

»Ich habe einen Spion, der mir erzählt, dass Ihre jüdischen Freunde nicht erbaut davon sind, dass Sie bei mir studieren. Ganz und gar nicht. Und sie sind nicht erbaut davon, dass Sie sich zunehmend von Ihrer Gemeinde distanzieren. Caute, mein Junge. Passen Sie auf, dass Sie ihnen nicht weiteren Kummer bereiten. Vertrauen Sie Ihre tieferen Gedanken und Zweifel keinem Fremden an. Nächste Woche werden wir sehen, ob Epikur Ihnen nützliche Ratschläge geben kann.«

4

ESTLAND, 10. MAI 1910

Nachdem Alfred hinausgegangen war, standen die beiden alten Freunde auf und streckten sich, während Direktor Epsteins Sekretärin einen Teller mit Apfel- und Walnussstrudel auf den Tisch stellte. Sie nahmen wieder Platz und bissen hin und wieder schweigend davon ab, während sie den Tee aufbrühte.

»Nun, Hermann, ist dies das Gesicht der Zukunft?«, fragte Direktor Epstein.

»Keiner Zukunft, die ich erleben möchte. Ich freue mich über den heißen Tee – es fröstelt mich in seiner Gegenwart.«

»Wie viele Sorgen sollten wir uns über diesen Jungen und über seinen Einfluss auf seine Klassenkameraden machen?«

Ein Schatten huschte vorüber. Ein Schüler ging draußen im Korridor vorbei, und Herr Schäfer stand auf und schloss die Tür, die halb offen geblieben war. »Ich bin schon sein Vertrauenslehrer, seitdem er hier angefangen hat, und ich hatte ihn in mehreren Fächern. Eigenartig, ich kenne ihn überhaupt nicht. Wie du siehst, wirkt er so mechanisch, so distanziert. Ich treffe die jungen Leute oft bei hitzigen Diskussionen an, aber Alfred gesellt sich nie zu ihnen. Er hält sich bedeckt.«

»In den letzten Minuten wohl kaum, Hermann.«

»Das war vollkommen neu. Das hat mich erschüttert. Ich habe einen

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