Das Spinoza-Problem - By Yalom, Irvin D Page 0,105

innerhalb eines Staates? Ich habe schon wieder den Faden verloren.«

»Es ist über ein Jahr her, Franco, seit wir zuletzt miteinander gesprochen haben, und ich rede sofort über Philosophie, statt mich ausführlich nach Ihrem Leben zu erkundigen.«

»Ach was. Nichts ist mir wichtiger, als solche Gespräche wie jetzt mit Ihnen zu führen. Ich komme mir vor wie einer, der kurz vor dem Verdursten ist und plötzlich doch noch eine Oase findet. Alles andere hat Zeit. Erzählen Sie mir von Ihrem Staat innerhalb eines Staates.«

»Ich meine damit Folgendes: Da der Mensch in jeder Hinsicht ein Teil der Natur ist, ist es nicht richtig zu glauben, dass der Mensch die Ordnung der Natur eher stört als ihr folgt. Es ist nicht richtig anzunehmen, dass er oder irgendein Wesen in der Natur einen freien Willen hätte. Alles, was wir tun, wird entweder von äußeren oder inneren Ursachen bestimmt. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen schon einmal darlegte, dass Gott oder die Natur die Juden nicht auserwählt hat?«

Franco nickte.

»Also ist auch wahr, dass Gott nicht beschlossen hat, die Menschheit solle etwas Besonderes sein, also außerhalb der Naturgesetze stehen. Diese Ansicht hat, wie ich glaube, nichts mit natürlicher Ordnung zu tun, sondern entstammt vielmehr unserem tiefen Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, unvergänglich zu sein.«

»Ich glaube, ich begreife, was Sie meinen – das ist ein gigantischer Gedanke. Keine Freiheit des Willens? Ich bin skeptisch. Das möchte ich anfechten. Es ist nämlich so: Ich denke, dass ich frei entscheiden kann zu sagen: ›Das möchte ich anfechten.‹ Dennoch habe ich keine Argumente parat. Bis zu unserem nächsten Treffen werde ich mir einige überlegen. Aber Sie sprachen vom Attentäter und einer Verknüpfung der Ursachen, als ich Sie unterbrochen habe. Bitte fahren Sie fort, Bento.«

»Ich glaube, es ist ein Naturgesetz, auf ganze Klassen von Dingen in gleicher Weise zu reagieren. Dieser Attentäter war vielleicht außer sich vor Trauer um seine Familie, hörte, dass ich ein ehemaliger Jude bin, und stellte mich mit anderen ehemaligen Juden, die seiner Familie Leid zugefügt haben, auf die gleiche Stufe.«

»Ihre Denkmethode erscheint mir logisch, aber sie muss auch den Einfluss anderer einbeziehen, die ihn vielleicht dazu ermutigt haben, so etwas zu tun.«

»Diese ›anderen‹ unterliegen ebenfalls einer Verknüpfung von Ursachen«, sagte Bento.

Franco überlegte und nickte. «Wissen Sie, was ich denke, Bento?«

Bento sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich glaube, das ist eine Lebensaufgabe.«

»Insoweit stimmen wir vollkommen überein. Und ich bin damit einverstanden, sehr einverstanden sogar, mein Leben dieser Aufgabe zu widmen. Aber was wollten Sie über den Einfluss anderer auf den Attentäter sagen?«

»Ich glaube, dass die Rabbiner ihn anstifteten und die Gedanken und Handlungen Ihres Attentäters steuerten. Das Gerücht geht um, dass er im Augenblick im Keller der Synagoge versteckt gehalten wird. Ich glaube, die Rabbiner wollten der Kongregation mit Ihrem Tod die Gefahren vor Augen führen, die jemandem drohen, der die rabbinische Autorität anzweifelt. Ich habe die Absicht, der Polizei zu sagen, wo er sich vielleicht versteckt hält.«

»Nein, Franco. Tun Sie das nicht! Denken Sie an die Folgen. Der Kreislauf aus Trauer, Wut, Rache, Strafe, Vergeltung ist endlos und wird Sie und Ihre Familie am Ende verschlingen. Wählen Sie einen religiösen Weg.«

Franco sah ihn entsetzt an: »Religiös? Wie können Sie den Begriff ›religiös‹ in den Mund nehmen?«

»Ich meine einen moralischen Pfad, einen tugendhaften Pfad. Wenn Sie diesen Kreislauf von seelischem Schmerz durchbrechen wollen, müssen Sie mit diesem Attentäter sprechen«, sagte Bento. »Beruhigen Sie ihn, lindern Sie sein Leid, versuchen Sie, ihn aufzuklären.«

Franco nickte langsam und saß schweigend da, während er Bentos Worte verdaute. Dann sagte er: »Bento, lassen Sie uns noch einmal zu dem zurückgehen, was Sie vorhin über Ihre tiefe Wunde im Kopf sagten. Wie ernst ist diese Wunde?«

»Ehrlich gesagt, Franco, bin ich vor Angst wie gelähmt. Mein Brustkorb fühlt sich so eng an, als wollte er gleich bersten. Ich kann mich nicht beruhigen, obwohl ich schon seit dem Vormittag daran arbeite.«

»Wie arbeiten Sie daran?«

»Nun, so, wie ich es Ihnen beschrieben habe – ich rufe mir in Erinnerung, dass alles eine Ursache hat und das, was geschah, notwendigerweise geschah.«

»Was bedeutet notwendigerweise?«

»Unter Berücksichtigung aller Faktoren, die sich vorher ereigneten, musste dieser Vorfall eintreten. Er war nicht zu verhindern. Und eines der wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe, ist, dass es wider die Vernunft ist, etwas beherrschen zu wollen, das wir nicht beherrschen können. Das, und davon bin ich überzeugt, ist ein wahrer Gedanke, und dennoch kehren die Bilder dieses Überfalls immer wieder zurück und verfolgen mich.« Bento hielt einen Augenblick inne, als seine Augen seinen zerfetzten Mantel streiften. »Gerade eben kam mir in den Sinn, dass der Anblick

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